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Der Kampf um den Hambacher Wald ging Mitte September 2018 in die heiße Phase. Um die mögliche Rodung des Naturwaldes zu verhindern, hatten seit rund sechs Jahren Aktivisten und Aktivistinnen dort Baumhäuser errichtet und lebten dort. Am sechsten Tag der Zwangsräumung geschah ein Unglück. Jens Mühlhoff war zu Hause und erfuhr über Twitter, dass ein Journalist abgestürzt war, Fabiana Fragale saß im Zug und war auf dem Weg zum „Hambi“, als sie einen Anruf von Jens bekam. Nach ihrer Ankunft erfuhr sie, dass der Journalist seinen schweren Verletzungen erlegen war. Kilian Kuhlendahl stand direkt unter den Bäumen, um seinem Kommilitonen Steffen Meyn neue Speicherkarten vorbeizubringen, als dieser aus 16 Metern abstürzte. Alle vier waren zu der Zeit Studenten der Kunsthochschule für Medien in Köln und miteinander befreundet. Es hat lange gedauert, bis die Staatsanwaltschaft die Aufnahmen von Steffen Meyn freigegeben hat, aber danach setzten sich die drei verbliebenen Filmemacher daran, die Aufzeichnungen im Rahmen eines Dokumentarfilms zu verwenden und ihrem verstorbenen Freund damit ein Denkmal zu setzen: Vergiss Meyn nicht. Dessen Todestag jährte sich am 19. September 2023 zum fünften Mal.

Die drei Freunde bleiben innerfilmisch völlig im Hintergrund und stellen das Filmmaterial von Meyn in den Mittelpunkt. Kommentiert wird das Geschehen durch eine Reihe von Aktivisten, die damals Baumbesetzer waren und Steffen Meyn kannten. Es ist dabei ein ganzes Füllhorn an Ansichten und Aspekten herausgekommen, das ausreichend Stoff zum Nachdenken gibt. Auf Politisierung und Polemisierendes wird seitens des Filmteams verzichtet. Die Rolle des Energiekonzerns RWE, der am Rand des Waldes Kohletagebau betrieb, bleibt außen vor: ebenso der damals schon angekündigte und später beschlossene Kohleausstieg der Bundesregierung, der das alles obsolet machte. Das wurde seinerzeit auch ausführlich diskutiert. Das Filmmacher-Trio erlaubt uns aber anhand von Meyns Aufnahmen einen einzigartigen Blick in die inneren Strukturen der Baumbesetzerszene.

Das fängt damit an, dass Meyn sich falsch anschnallt hat und sich selbst dabei filmt, wie er es beigebracht bekommt. Der erste Aufstieg ist noch gewöhnungsbedürftig und dauert lang, denn die Sicherung ist umständlich und braucht ihre Zeit. Meyn zeigt, dass er einen Karabinerhaken erst lösen darf, wenn der nächste fest sitzt. Damit wird gleich zu Anfang etabliert, dass er sich ausreichend damit auskannte, es klärt allerdings nicht die Frage, warum er zur Zeit seines Fehltritts nicht angeseilt war.

Steffen Meyn war bei den Baumbesetzern beliebt, und er fiel auf, weil er seine 360-Grad-Kamera an einem Fahrradhelm befestigt hatte, mit dem er herumlief. Er interviewte einige der Aktivisten, filmte ihre Baumhäuser und die Einsätze der Polizei. Nachdem die Aufständischen Barrikaden gebaut hatten, suchte ein Polizist den Dialog mit ihnen. Meyn filmt die Diskussion, bei der dieser Polizist klar macht, dass die Barrikaden weggeräumt werden, ob ohne oder gegen ihren Widerstand, und fragt nach einem Ansprechpartner: „Sie werden keine einheitliche Antwort von den vielen Leuten bekommen, die hier zusammen leben“, erfährt er. Einige der Widerständler erklären dem Polizisten ihre Wut, indem sie ihn darauf aufmerksam machen, wie gewalttätig die inhaftierten Protestler behandelt werden. Es kommt zu verbalen Fehltritten, und einige beschimpfen den Polizisten als Arschloch, Bulle und Bastard. Steffen Meyn bedauert das später in seinem Resümee in die Kamera, weil der Polizist doch recht freundlich gewesen war. Er fragt sich, ob die Kompromisslosigkeit förderlich für die Sache sei. Einer der heutigen Interviewpartner erklärt, dass die „Kontakt-Cops“ vorbeigekommen seien, um zu spalten, und sie benutzten bewusst Argumente, von denen sie wussten, dass darin Uneinigkeit bestand.

Einige der Aktivisten fühlten sich „selbstwirksam“ und haben durch den Einsatz ihrer Körper die Zerstörung aufgehalten, trotz der Gefahren. Sie wurden als Terrorzelle eingestuft und erklären die Fehltritte der Polizei damit, dass die Polizisten sie als Feinde ansehen mussten und dadurch rücksichtsloser sein konnten. Natürlich seien Polizisten Menschen, aber im Einsatz seien sie keine individuell handelnden Menschen. Sie hätten eine Agenda. Und ein Polizist trägt eine Waffe. Die Interviewpartner des Filmemacher-Trios sind alle pazifistisch eingestellt, sind aber aus heutiger Sicht denjenigen Widerständlern dankbar, die Gegengewalt ausgeübt haben, weil sie durch ihre Entschlossenheit einen Freiraum geschaffen und letztendlich die unnötige Rodung verhindert hätten. Man sei in einer sehr privilegierten Lage, wenn man sich Gewaltfreiheit leisten könne. Wir könnten nicht friedlich in einer Welt leben, die sehr „gewaltvoll“ ist. Alles müsse strategisch überlegt sein. Was wolle man erreichen und was seien die Konsequenzen davon? Ist man bereit, für eine Sache im schlimmsten Fall auch zu sterben?

Drei Tage vor Steffen Meyns Tod am 16. September 2018 gab es die „rote Linie“, eine Kette von geschätzten 14.000 Menschen, die friedlich in Form eines „Waldspaziergangs" für den Erhalt des Hambacher Walds demonstrierten. Meyn hat diese mit der Kamera festgehalten. Danach erlaubte die Polizei der Presse keinen Zugang mehr zu den Orten des Geschehens, auch Meyn nicht, der im Besitz eines Presseausweises war. Der übernachtete kurzerhand auf einem Baumhaus, um am 6. Tag des Räumungseinsatzes von oben zu filmen. Es war der größte Polizeieinsatz in der Geschichte Nordrhein Westfalens. Die „rote Linie“ war ein Zeichen dafür, dass sich die öffentliche Meinung durchaus zugunsten der Waldschützer entwickelt hatte.

Zu den letzten Bildern, bevor Meyn abstürzte, gehören die von einer Frau, die vor Schmerzen schrie, als die Polizei sie gewaltsam aus ihrem Baumhaus entfernen wollte. Bei der Überquerung einer Brücke von einem Baumhaus zum anderen, geschah dann das Unglück. Alle Interviewpartner und -partnerinnen sind immer noch schockiert von Steffen Meyns Tod und rechnen ihm seine Arbeit als Verdienst an. Die Anwesenheit einer Kamera sei ein Gewinn gewesen, sie wäre eine Art Waffe. Vor einer Kamera würde der Einsatz der Polizei auf das vorgegebene Maß reduziert. Es sei ein hoher Preis, das mit dem Leben bezahlen zu müssen.

Die Filmemacher haben die Rolle von RWE, der Politik und den Mainstream-Medien aber weitestgehend ausgeklammert. Das fehlt am Ende schon ein bisschen. Derzeit befinden sich immer noch Baumbesetzer im Hambacher Wald, denn das Misstrauen sitzt tief. Aber durch die Aufnahmen von Steffen Meyn und die neuen Interviews bekommen wir einen tieferen Einblick in die damaligen Vorgänge.



Steffen Meyn hatte Erfahrung mit dem Klettern und den Sicherheitsvorkehrungen | © W-Film

Helga Fitzner - 21. September 2023
ID 14393
Weitere Infos siehe auch: https://www.wfilm.de/vergiss-meyn-nicht/


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