Die erschreckende
Macht der
Selbsttäuschung
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Bewertung:
Der Schweizer Filmemacher Rolando Colla hat sich sieben Jahre lang Zeit genommen, akribisch das Material für seine Dokumentation über den vermeintlichen Juden Bruno Wilkomirski zusammenzutragen und rund 200 Stunden Film auf 111 Minuten Dokumention zusammenzufassen. In W. - was von der Lüge bleibt, erzählt Colla fünf Geschichten. Die erste geht auf Wilkomirskis Autobiografie Bruchstücke aus dem Jahr 1995 ein, indem er sich als Insasse von Konzentrationslagern darstellt und danach zum jüngsten Überlebenden des Holocausts stilisiert wird. Im zweiten Teil wird nachgewiesen, dass die Geschichte erfunden ist, im dritten lernen wir den Protagonisten kennen, der vierte Teil versucht, sich einen Reim auf das Ganze zu machen. Beim fünften Kapitel gibt es keinen Kommentar mehr, weil das für sich selbst spricht.
Die Fakten: Der spätere Berufsmusiker Bruno Wilkomirski wurde 1941 in Biel in der Schweiz als uneheliches Kind unter dem Namen Bruno Grosjean geboren. Wegen der Spätfolgen eines Autounfalls konnte die Mutter Bruno nicht mehr versorgen und gab ihn mit zwei Jahren ins Kinderheim. Er fand Pflegeeltern, wobei die Pflegemutter psychisch schwer gestört war und das kleine Kind ängstigte und misshandelte. Colla fand heraus, dass sie später in eine Anstalt eingewiesen wurde, wo sie Selbstmord beging. - Eigentlich ist es der Traum jedes Heimkindes adoptiert zu werden, und die Familie Dösseker war zudem sehr wohlhabend, mit Bediensteten und vielen Privilegien. Doch Bruno Dösseker, so bis heute sein offizieller Name, empfand sein Leben dort als goldenen Käfig. Aber er hatte – im Gegensatz zu vielen Heimkindern – die Möglichkeit zu studieren und daraufhin als Klarinettist aufzutreten und Musikunterricht zu geben.
Colla setzt in der Dokumentation säuberlich die vielen Puzzleteile zusammen, aus denen Dösseker seine erfundene Identität gebastelt hat. Der kleine Bruno hat eine Kindheitshölle durchleben müssen, die ihn schwer traumatisiert hat. Das ist unbestritten, weil es dafür Zeugenaussagen gibt. Es passte nicht zum Selbstbild der Schweiz, dass dies dort geschehen konnte, obwohl die Schweiz bedauerlicherweise keine Ausnahme ist. Um die erlittenen Traumata öffentlich zu machen und ihnen eine Bedeutung zuzumessen, bildete sich Dösseker ein, dass er osteuropäischer Jude und Überlebender des Holocausts sein müsse. Das wird zur Obsession. Er fährt nach Riga und „erkennt“ dort sein Wohnhaus wieder, obwohl er vorher noch nie in Lettland war. Er reist nach Majdanek, um dort Recherchen über das ehemalige polnische Konzentrationslager zu betreiben. Es wird ihm mehrfach gesagt, dass die von ihm vorgetragene Geschichte sich so nicht abgespielt haben kann, weil die Faktenlage das Gegenteil beweist.
Man muss Dössekers Beharrlichkeit bewundern. Als er in Polen ein Konzert mit der Geigerin Wanda Wilkomirska besucht, macht man ihn auf die Ähnlichkeit zwischen beiden aufmerksam. Die beiden lernen sich kennen, verstehen sich auch gut, und Wilkomirski nimmt den Namen der Geigerin an, die aus einer polnischen Familie stammt und gar keine Jüdin ist. So wird aus Bruno Dösseker der jüdische Autobiograf Binjamin Wilkomirski, der mit seinem Buch Bruchstücke 1995 einige Jahre lang große Erfolge feiert. Er hat öffentliche Auftritte, und seine Leidensgeschichte bekommt die Aufmerksamkeit, die jedes misshandelte Kind verdienen würde, das zudem Todesangst, Hunger und Kälte erfahren musste. Nur ist der Genozid an den Juden und Jüdinnen eine andere Dimension, und diesen für seine eigenen Zwecke zu nutzen, ist schon eine Täuschung der besonderen Art.
Als ein paar Jahre später der Journalist Daniel Ganzfried ein Porträt über ihn schreiben soll, stößt er auf Ungereimtheiten, recherchiert weiter und deckt den Betrug auf. Die erfundene Geschichte ist eine Ungeheuerlichkeit. Wilkomirski war vor der Enthüllung eins von elf Kindern gewesen, deren unbekannte Identität über eine israelische Fernsehsendung geklärt werden sollte. Bei 10 Kindern ist das gelungen, bei ihm nicht! Er lässt sich von einem alten Überlebenden der Shoa als verlorenen Sohn annehmen, obwohl ihm klar sein muss, dass alles Lüge ist, was später durch einen negativen DNA-Test bestätigt wird. Doch für Rücksicht ist in dem Bedürfnis nach Aufmerksamkeit kein Raum, weil sich da längst eine Eigendynamik entwickelt hat. - Der Sturz des gefeierten Autobiografen war tief, und die meisten Menschen wandten sich von ihm ab. „Die Lüge war die einzige Möglichkeit zu erzählen, was draußen wirklich geschah“, erklärt er, und das stimmt durchaus. Nehmen wir allein Gleichnisse aus der Bibel oder Volksmärchen, die Verschlüsselungen für eine tiefer liegende Botschaft sind. Doch „die Entlarvung macht ihn zum Täter, obwohl er doch unbedingt Opfer sein wollte“, heißt es im Film.
In seiner verzweifelten Suche nach Zugehörigkeit hat Wilkomirski viele Stoppschilder ignoriert. Der Film hat kein Ende in dem Sinne, dass es eine Lösung gäbe. Es gibt keine Verhaltensänderung oder Einsicht, und dieses Unvermögen ist die eigentliche Tragödie Bruno Wilkomirskis. Das „normale“ Leben ging irgendwie an ihm vorbei, wobei dahingestellt sei, ob unsere oft oberflächlichen Vergnügungen so erstrebenswert sind. Er hat das Privileg, in der neutralen Schweiz aufgewachsen zu sein, hätte ein stolzer Eidgenosse werden können und ist ein Mann mit vielen Begabungen. Wilkomirski gehört einer Generation an, die in der Zeit der „schwarzen Pädagogik“ aufwuchs. Es dürfte etlichen Kindern nicht viel anders gegangen sein, weil diese Art der Erziehung auf Unterdrückung und Gewalt setzte, wobei das Leid des einen Kindes nicht gegen das des anderen aufgewogen werden kann. Da bedarf es in Europa insgesamt der Aufarbeitung. Das gelingt leider nur durch innere Prozesse und nicht durch die Verlagerung der Problematik nach außen. Außenstehende können allenfalls Impulse geben.
Am Ende bleiben viele Leerstellen. Warum ist er der tragischen Geschichte seiner leiblichen Mutter nie nachgegangen. Sein Vater hieß Rudolf Zehnder und willigte in einen DNA-Test ein, der die Vaterschaft bestätigte. Colla zeigt eine entsprechende Filmaufnahme mit ihm. Warum hat sein Sohn ihn nie nach seinem Hintergrund befragt? Warum interessiert es Wilkomirski nicht, ob er vielleicht Geschwister oder andere leibliche Verwandte hat?
W. – was von der Lüge bleibt ist ein tiefgründiger und handwerklich grandioser Film, der sehr gutes Dokumentarmaterial verwendet und die Kindheitstraumata des kleinen Bruno durch die Zeichnungen von Thomas Ott eindrücklich illustriert. Aber er lässt das Publikum traurig und ratlos zurück. Es gibt keine explizite Botschaft, aber er zeigt, wie zerbrechlich die Psyche von Kindern ist und wie bedeutsam eine unvoreingenommene und gründliche Recherche von wahren Fakten.
Der deutsche Regisseur Jo Baier äußerte sich begeistert über die Dokumentation:
„Dieser kluge und zutiefst berührende Film zwingt uns auf unaufdringliche Weise dazu, uns diesen Fragen nach Wahrheit und Wirklichkeit zu stellen, uns zum Nachdenken über eigene Urteile und Vorurteile anzuregen. Und das ist großartig. Ich kann es nicht anders sagen.“
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Bruno Wilkomirski war in seiner Kindheit Todesängsten und Misshandlungen ausgesetzt | © Der Filmverleih GmbH
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Helga Fitzner - 17. November 2021 ID 13300
Weitere Infos siehe auch: https://wwasvonderluegebleibt.der-filmverleih.de/
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