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Dokumentarfilm

Der nette Massenmörder von nebenan – Der Anständige ist ein strittiges Himmler-Porträt



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Bis heute – und mit größerer zeitlicher Distanz sogar zunehmend – beschäftigt die Nachgeborenen, wie aus normalen Familienvätern während des Dritten Reiches Schreibtischtäter und Massenmörder werden konnten. Offenkundig kann man aus heutiger Sicht die authentisch gelebten Leben von Familienmenschen schlecht mit deren zerstörungs- und vernichtungswütiger Seite gedanklich zusammenbringen. Zuletzt beschäftigte sich der österreichische Oscar-Gewinner (Die Fälscher, 2007) mit Stefan Ruzowitzky in Das radikal Böse (2013) mit dem Phänomen, wie und wieso sich junge Wehrmachtssoldaten oft willig in Kriegsverbrechen verstricken ließen. Sein Patchwork aus nachgestellten Szenen, Archivbildern und modernem Soundtrack war der nicht immer geglückte Versuch, die ästhetisch ausgetretenen Pfade filmischer Vergangenheitsaufarbeitung zu verlassen. Einen neuerlichen, ebenfalls ehrenwerten wie zwiespältigen Versuch, zu neuen Darstellungsformen der Nazi-Verbrechen zu gelangen, unternimmt die in Belgien geborene, in Israel lebende Regisseurin Vanessa Lapa in Der Anständige. Sie kombiniert da fotografisches und filmisches Archivmaterial, darunter auch Amateuraufnahmen aus dem Lebensalltag der Deutschen aus den 1920er-1940er Jahren, mit „sorgfältig ausgewählten Exzerpten“ (so die Pressemitteilung) aus persönlichen Briefen und Postkarten Heinrich Himmlers, dem Reichsführer-SS und zeitweiligen Innenminister des Naziregimes, und seiner Frau und ältester Tochter sowie anderen Familienmitgliedern.



Regisseurin Vanessa Lapa | (C) Edition Salzgeber


Vorgelesen werden die Auszüge von den Schauspielern Tobias Moretti (bald zu sehen im Drama Hirngespinster) und Sophie Rois, die in Wien und Berlin vor allem am Theater spielt. Natürlich ist es durchaus aufschlussreich, wie und worüber der neben Goebbels konsequenteste und in seinem Wirken mit Abstand mörderischste Naziminister mit seinen Angehörigen kommuniziert und welches Selbstbild er damit vermittelt. Der nationalistisch gesinnte, durch den verlorenen Ersten Weltkrieg persönlich gekränkte Schüler und Student sah sich wie so viele Anhänger der Nazibewegung als Mitbegründer eines neuen nationalen Erwachens, der den Aufstieg Deutschlands zur bestimmenden europäischen Großmacht ermöglichen würde. Die Marginalisierung und letztlich auch Ermordung politisch Andersdenkender und rassischer und religiöser Minderheiten war ihm – so absurd dies heute klingt – eine Bestimmung, um Deutschland weiter voran zu bringen.

Schon Jahre vor dem Kriegsbeginn trieb er den Aufbau von Gefängnissen und Konzentrationslagern voran, in der zunächst politische Häftlinge und später massenhaft verfolgte Minderheiten hineingepfercht wurden. Die bürokratisch organisierte, umfassende Vernichtung der sogenannten „Reichsfeinde“ betrieb er unnachgiebig und selbst bei ernüchterndem Kriegsverlauf ohne Einschränkungen. Was schrieb er darüber an seine (deutlich ältere) Ehefrau Marga, seine heimliche Geliebte oder Bekannte? Nichts. Himmler belässt es bei schwammigen Andeutungen und Gejammer, das ebenso gut auch von Jemandem stammen könnte, der von langer, aufreibender Arbeit im Büro oder auf der Baustelle genervt ist. Nur seine Lazarettakte gibt Aufschluss darüber, dass er die selbst miterlebten Massenerschießungen nicht vertrug (es führte u.a. zu akuter Verstopfung) und daher die Vergasungsmethode als Mordmittel vorantrieb, um seine SS-Leute und die Soldaten zu schonen. Ohne die exakte zeitgeschichtliche Einordnung, die über Einblendungen besorgt wird, hätte man den Eindruck, Himmlers Leben verliefe nahezu ungestört, seine Gemütsverfassung unterläge keiner Änderung.



Der Anständige: Himmler mit Tochter | (C) Edition Salzgeber


„Man muss im Leben immer anständig und tapfer sein und gütig“, schreibt er einmal ins Poesiealbum seiner ältesten Tochter Gudrun (bei der die Infiltrierung der Naziideologie übrigens ganze Arbeit leistete; sie unterstützte als Erwachsene nach dem Krieg immer die Täter). Der „liebe Pappi“, der seiner Familie trotz häufiger Abwesenheit immer wieder herzliche Grüße ausrichtet, sich liebevoll um deren Versorgung und Wohlergehen kümmert, zu Weihnachten reich beschenkt, und zeitgleich Partisanen, slawische Familien exekutieren und deportierte Juden vergasen lässt – von der etwas zu ausführlichen Illustration dieses gruseligen Widerspruchs lebt der Film Der Anständige. Über die (ja bereits bekannte) Erkenntnis, dass Himmler und seine Vollstrecker die eine Existenz von der anderen abspalten konnten, hinaus bietet Vanessa Lapas kaum neue Erkenntnisse. So sorgfältig die Auswahl der persönlichen Dokumente auch gewesen sein mag, hört man während der beinahe 90 Filmminuten doch viele allzu ähnlich klingende Auszüge. Oder umgekehrt ausgedrückt: Es hätten deutlich mehr Originaltexte aus Himmlers Befehlen und Verordnungen ergänzt werden müssen, um sein verharmlosendes, weltfremdes Gesäusel in den persönlichen Briefen kontrapunktisch zu ergänzen (Schnitt: Sharon Brook, Noam Amit).

Interessanter als die Texte selbst sind die Umstände, wie die 276 Briefe, 135 Fotografien, Gudrun Himmlers Poesiealbum, Postkarten und Tagebuch, Marga Himmlers Tagebuch und viele weitere familiäre Unterlagen nach 60 Jahren noch an die Öffentlichkeit gelangten. Himmler selbst wollte, dass seine Sekretärin alles vernichtet, doch US-Militärs hatten die Wohnung am Tegernsee im Mai 1945 bereits erreicht und den Besitz beschlagnahmt. „Wahrscheinlich“, so heißt es in der Pressemitteilung, „erstand sie der in Tel Aviv lebende Maler Haim Rosenthal direkt von dem amerikanischen Soldaten, der sie im bayerischen Wohnhaus Himmlers fand. Nach Rosenthals Tod überließ dessen Sohn die Dokumente Vanessa Lapas Vater zu einem symbolischen Preis – mit der Auflage, dass seine Tochter mit diesem Material einen Dokumentarfilm machen sollte.“ Das hat Vanessa Lapa nun getan – und mit den bereits genannten Einschränkungen ist es gut, dass sie es getan hat. Denn unter den im Film zitierten Dokumenten sind auch solche aus Himmlers frühester Jugend, die deutlich machen, wie sich dessen braunes Denken bis zur hemmungslosen Menschenverachtung entwickelt hat. Die Homophobie („unnatürliches, ekelhaftes Betragen“), der Antisemitismus, die Verachtung des osteuropäisch-Slawischen – all diese Grundbestandteile der Naziideologie toben bereits im Kopf des Schülers Himmlers umher.



Der Anständige: Himmler | (C) Edition Salzgeber


Vor allem ist Jung-Himmlers unbändige Wut darüber zu vernehmen, dass das deutsche Kaiserreich anscheinend wegen der mangelnden Entschlusskraft seiner militärischen Elite und der mangelnden Härte und Durchhalteleistung seiner Soldaten den Krieg verloren hat. Daher ist Himmler sein Leben lang davon überzeugt, generell keine Zurückhaltung oder Gnade walten zu lassen, wenn es darum geht, die ihm obliegenden, scheinbar kriegsentscheidenden Maßnahmen durchzuführen – wozu auch die Vernichtung aller defätistischen und vermeintlich die Kampfkraft und rassische Reinheit der Gesellschaft verhindernden Menschen gehört. So erklärt sich zumindest teilweise die psychologische Umkehrung aller humanen Werte, die Massenmorde für notwendig erachtet und Mitleidlosigkeit als charakterliche Auszeichnung versteht. In einer der wenigen im Film zitierten Ansprachen Himmlers an die SS-Offiziere äußert der Reichsminister Verständnis für jene, die angesichts sich zu „hunderten oder tausenden“ stapelnden Leichen körperliche Reaktionen zeigen, betont jedoch, dass „dies durchgehalten zu haben“ die deutschen Soldaten in besonderer Weise gegenüber den Weicheiern in anderen Armeen als besonders „anständig“ auszeichnet und für alle Zeiten zu Vorbildern macht. Krasser kann eine Verkehrung von Ideologie und Wirklichkeit nicht ausfallen. Es ist die eigentliche Stärke von Lapas Film, noch einmal deutlich auf diese Quellen hinzuweisen, aus denen sich die heute kaum noch nachvollziehbaren, deutsch-nationalen Lebenslügen der 1920er-1940er Jahre gespeist haben. Die tiefe Demütigung eines Nationalstolzes spielt auch bei aktuellen kriegerischen Konflikten eine Rolle, und schon deshalb sollte man diese Phänomene ernst nehmen. Ihre verheerende Wirkung konnte die Verquickung von politischen und psychohygienischen Verletzungen im Dritten Reich nur deshalb entfalten, weil sie in einem autoritären, auf Aggression und Macht des Stärkeren setzenden Umfeld gefördert wurden. Diese Blickerweiterung hätte der Film noch in größerem Maße leisten müssen, um wegweisende ästhetische Perspektiven aufzuzeigen.


Max-Peter Heyne - 19. September 2014
ID 8107
Das Buch mit den Dokumenten, Himmler privat. Briefe eines Massenmörders (400 Seiten, 28 Fotos, 7 Faksimiles) ist im Februar im Piper-Verlag erschienen.

Weitere Infos siehe auch: http://www.der-anstaendige.de


Post an Max-Peter Heyne



 

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