Das Bisschen,
was ich über
ich weiß
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Bewertung:
Männer machen Geschichte, die Frauen sind Mütter und halten ihnen den Rücken frei. So war es in der uns bekannten Menschheitsgeschichte fast immer und ist es auf diesem Globus überwiegend noch heute. Der Dokumentarfilm verdankt dieser generationenübergreifenden Geschlechtertrennung das Genre des investigativen Vaterporträts: Filme, in denen die Väter von den eigenen Söhnen (manchmal auch Töchtern) in der Hoffnung unter die Lupe genommen werden, mehr über sie zu erfahren, weil sie nurmehr Fremde oder Phantome in deren Leben waren. Dies trifft auch auf Regisseur Andreas Goldstein und seinen Vater Klaus Gysi zu. Gysi – ebenfalls Vater des Anwalts und Politikers Gregor Gysi – war für die SED-Regierungen in verschiedenen, hochrangigen Funktionen tätig: unter Ulbricht Bundessekretär, Volkskammerabgeordneter und Kulturminister, unter Honecker Botschafter in Italien und Staatssekretär für Kirchenfragen. Zuvor war Gysi Verlagschef des renommierten Aufbauverlages.
Wie in vielen Fällen zwischen Vätern mit wichtigen Aufgaben und Funktionen zu ihren Söhnen glänzte auch Klaus Gysi in der Wahrnehmung von Andreas Goldstein (der den Namen des ersten Ehemannes der Mutter behielt) durch Abwesenheit, Geschäftigkeit und – etwas vulgär ausgedrückt – Klugscheißerei. Goldstein schildert diese Erfahrungen im Tonfall wie auch auf der visuellen Ebene seines Films nüchtern bis distanziert. Mit Mitte 50 unternimmt Goldstein mit dem Porträt einen Versuch der Annäherung, bei dem die persönlichen Erinnerungen nicht ausreichen, um die Person hinreichend zu beschreiben. TV-Material und schriftliche Dokumente aus dem SED-Archiv müssen ergänzend die Lücken füllen, die in Goldsteins Gefühlslandschaft in Bezug auf den Vater vorhanden sind. Auf Interviews mit Zeitzeugen oder Auszüge aus Sachliteratur verzichtet der Regisseur.
Für sein Anliegen, das Wesen des Vaters besser erkennen und gleichzeitig vermitteln zu können, wählt Goldstein stattdessen eine unkonventionelle, bisweilen die Grenzen zum Experimentalfilm überschreitende Art: Den nicht immer streng chronologisch erzählten Lebenslauf bebildert Goldstein nur zu einem geringen Teil mit Familienfotos und Mitschnitten aus alten Fernsehsendungen, in denen Klaus Gysi in seiner Eigenschaft als Funktionär auftrat. Als wollte Goldstein die Geister der Vergangenheit bannen, die er selbst heraufbeschwört, greift er zu jenem Instrument, das er schon seit seiner Jugendzeit als Mittel der Reflexion und Selbstbestimmtheit genutzt hat: den Fotoapparat. So reiht Goldstein eine Fülle eigener Kunstfotografien aneinander, meist Wälder und Landschaften, einige wenige Stadtansichten Ostberlins oder Details der elterlichen Wohnung, und versieht diese behutsam und pointiert mit Off-Kommentar.
Dies und seine ruhige und Emotionen zurückhaltende Art zu sprechen ergeben ein für zeitgenössische Dokumentarfilme ungewohntes, geradezu meditatives Vergnügen, als folgte man dem Regisseur beim Spazierengehen in eines der abgebildeten Waldstücke, um dort seinen Vater zu treffen, der sein wahres Ich preisgibt. Denn wie bei allen Funktionären ist der offizielle, nach Außen dargestellte Anteil von dem privaten Anteil der Persönlichkeit nur schwer zu trennen. Und dass ein SED-Funktionär in besonderem Ausmaß, nämlich jahrzehntelang, Realitätverleugnung und -Verdrängung betreiben musste, versteht sich von selbst. Zu Gysis Verteidigung bleibt festzuhalten (und sein Sohn belegt dies), dass er von Natur aus redegewandt und ein authentisch wirkender Meister der Wortgirlanden und Formulierungsvernebelung war, was andere DDR-Bürokraten sich erst mühsam antrainieren mussten. Zudem war er ein selbstkritischerer Mensch als seine Politbüro-Kollegen, der sich seiner privilegierten Stellung in der DDR-Hierarchie und somit auch des Selbstbetruges bewusst war, wie er nach der Wende im Fernsehen zugibt.
Goldsteins Porträt ist zwar eine sehr persönliche Abrechnung mit der Rolle des Vaters in einem Staat, der mit guten Absichten, aber von vornherein auf unflexible, ideologische Fundamente aufgebaut wurde. Aber der Regisseur vermeidet im Gegensatz zu seinem Vater Hochmut und Besserwisserei, schildert seine Gefühle bisweilen im ironischen oder schneidenden Tonfall, aber ohne hörbare Verbitterung. Angesichts der Tatsache, dass Goldstein als Regisseur ein Anfänger ist, besticht vor allem die stilsichere und eigenwillige Gestaltung. Als Trennelement zwischen den Themen und Zeitsprüngen nutzt Goldstein die inzwischen fast vergessenen Schwarzblende, und zwar mehrere Sekunden lang ohne Ton. Man sieht die Fernsehredakteure bildlich vor sich, wie sie sich die Haare raufen. Erstaunlich auch, dass Goldstein die filmischen Mittel in dem Wendedrama Adam und Evelyn weit weniger originell und überzeugend eingesetzt hat – er ist offenkundig ein größeres Dokumentarfilmtalent.
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Was nun Klaus Gysi angeht: Manche Informationen hat sein Sohn nie erfahren, so bleibt es auch für den Zuschauer im Dunklen. Kaum denkbar, dass Goldstein zu diesen Aspekten keine Recherchen angestellt hat, aber wahrscheinlich wollte er sich nicht in Spekulationen ergehen. So wurde der jüdische Kommunist Gysi von der KP mitten im Krieg aus dem etwas sichereren Frankreich unter enormen Risiken in die Höhle des Löwen, nach Berlin zurückgeschickt, um die Nazis auszuspionieren oder gar zu bekämpfen. Absurd! In der ersten Phase der DDR wird Gysi jahrelang unter Druck gesetzt und durchleuchtet, ob er ein wahrhaft treuer Genosse ist. Ging dies auf Stalins lebenslangen, paranoiden Antisemitismus zurück, der vor seinem Tod insbesondere die jüdischen KP-Mitglieder in der Sowjetunion bedrohen und verhaften ließ? Vermutlich.
Ein Mann, der schon als Pubertierender nach dramatischen Beobachtungen in der gewalterfüllten Weimarer Republik dem kommunistischen Jugendbund beitrat und sich daraufhin in der Nazidiktatur in Lebensgefahr befand, der nach dem Krieg wie viele an das sozialistische Experiment auf deutschem Boden glaubte – es gibt uninteressante Biografien. Dass Gysi seine Talente letztlich aber an eine anti-intellektuelle, ideologisch verblendete Clique kleinbürgerlicher Despoten verschwendete, ist das ernüchternde Fazit, dass sein Sohn mit diesem Film zieht. Immerhin: Gysi war privat ein Lebemann und Frauenheld. Seine Politik aber blieb grau und nebulös.
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Klaus Gysi war Der Funktionär. | (C) Salzgeber Filmverleih
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Max-Peter Heyne - 18. April 2019 ID 11358
Weitere Infos zum Film Der Funktionär
Post an Max-Peter Heyne
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