In weiter
Ferne, so nah
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Bewertung:
Doch immer interessant, einer Premiere beizuwohnen, bei der die Filmschaffenden anwesend sind. So berichtete Olga Delane, die Regisseurin des Dokumentarfilms Liebe auf Sibirisch - Ohne Ehemann bist du keine Fau!, neulich in Berlin, dass die Menschen in dem Dörfchen Onon-Borzya sich von ihrer Wahlheimat Berlin gar keine genaue Vorstellung machen konnten. Ihnen sei es irgendwann leichter gefallen, sie als amerikanische Reporterin anzusehen.
Das muss man berücksichtigen, um die Menschen aus Onon-Borzya in der Region Transbaikalien im südöstlichen Sibirien (1.000 Kilometer östlich vom Baikalsee!) nahe der mongolischen und chinesischen Grenze aufgrund ihrer mangelnden Welterfahrung nicht für Hinterwäldler zu halten: Sie und uns trennt nicht nur ein Wald, sondern abertausende Wälder, ja, ein Kontinent. Das Dorf ist so weit von Berlin entfernt wie die Spanne über den Atlantik reicht, also von Berlin zur Ostküste des nordamerikanischen Kontinents (Luftlinie!). Das Leben in dieser sehr dünn besiedelten Region der Erde ist weitaus weniger komfortabel als in unseren Breiten; fließend warmes Wasser, ständige Stromzufuhr und gut ausgebaute Verkehrswege sind nicht selbstverständlich. Die Fahrt mit dem Auto in die nächstgelegene Stadt oder gar ins entfernte China, um Technik und Kleidung zu kaufen, ist eines der Besonderheiten, die sich einige besser Situierte des Dorfes von Zeit zu Zeit gönnen.
Gelebt wird rustikal und von dem, was der Boden ringsum so hergibt: Kartoffeln, Rüben, Kohl, und ab und zu wird ein Schwein oder eine Ziege geschlachtet. Landwirtschaft betreiben fast alle, was unter den kargen, wenig mechanisierten sibirischen Bedingungen eine echte Knochenarbeit ist. Zu den jahrhundertealten Traditionen gehört auch, dass die Frauen des Dorfes sich dem Willen der Männer unterordnen. Immerhin, so bekräftigen sie, werden die Frauen nicht mehr wie noch vor zwei Generationen verprügelt, wenn sie zu eigenwillig geworden sind.
Regisseurin Olga Delane fiel bei den Dreharbeiten auf wie ein bunter Hund, unter anderem deswegen, da sie Single-Frau und Selbstständige ist, die sich nicht um Kinder und einen Haushalt kümmert. Feminismus ist den Dörflern schon als Begriff unbekannt – und überhaupt sehen die Männer sich durchweg als Familienoberhäupter und damit diejenigen, die die wichtigen Entscheidungen treffen. Ein kaum verhohlenes Unverständnis schimmert durch, wenn die Sibirer von der dekadenten, die "natürlichen" Verhältnisse auf den Kopf gestellten Lebensprinzipien der Westler sprechen – die sie kaum kennen. Präsident Vladimir Putin dürfte das gefallen, was auch erklärt, dass man mit dessen Machohaftigkeit in der Weite des Landes keine großen Probleme hat.
Und doch: Bruchstellen sind deutlich erkennbar. Eines der gezeigten Paare hat zwar ihrer jungen Tochter einen aparten Jungen als zukünftigen Gemahl auserkoren, erzwingt dies letztlich aber doch nicht. Der kernige Hausherr zeigt sein weiches Herz und überlegt, seiner Frau zuliebe in die entfernte Stadt zu ziehen und damit es seiner Tochter einmal besser ergeht als den Eltern. Die anderen, teils deutlich älteren Paare sprechen zwar auch von Liebe, die sie verbindet. Tatsächlich aber ist es wohl Gewohnheit und der Mangel an Alternativen, der sie zusammenbleiben lässt. Die ständigen Frotzeleien ergeben vor der Kamera jedenfalls einen prächtigen Unterhaltungswert.
Olga Delane fragt zwar nach Wünschen, Sehnsüchten und Gefühlen, um aus der wortkargen Gruppe von Dörflern, die sie porträtiert, etwas heraus zu kitzeln. Aber ansonsten hält sich die Regisseurin angenehm zurück, kommentiert nicht, sondern registriert und zeigt. Sie überlässt es dem deutschen Zuschauer, vor allem aber der deutschen Zuschauerin, auf die geschilderten Verhältnisse eher mit Demut, Mitleid oder Anerkennung zu reagieren. Denn man kommt nicht umhin, die Menschen aufgrund ihres stoischen, fatalistischen und bisweilen schwarzhumorigen Umgangs mit den meist stumpfsinnigen Alltagsverrichtungen zu bewundern.
Die selbst aus Sibirien stammende Delane neigt bei aller Behutsamkeit nicht zur Verklärung: Der Film lässt nicht die massiven Probleme aus, die das entbehrungsreiche und extrem von den Jahreszeiten abhängige Leben in dieser Region der Welt zeitigt: Die Trunksucht der männlichen Bevölkerung ist epidemisch, die Kinder leiden, es häufen sich Selbstmorde (was nicht gezeigt wird, sondern die Regisseurin berichtete). Ein Laptop und ein Ausflug ins China der Luxusgüter sind Zeichen, dass die Dekadenz der fernen Länder (im Westen, Süden und Osten) auch Sibirien nicht mehr so ungeschoren werden lassen wie bisher.
Bemerkenswert: Die Regisseurin legte vor Jahren mit dem Drehen einfach los und hoffte auf eine späte Finanzspritze – die ihr ein deutscher Produzent (Frank Müller), deutsche Förderung (Niedersachsen Nordmedia) und einige TV-Sender (der rbb, arte und Al Jazeera Documentary) dann irgendwann auch verschafften. Die langen Abstände beim Drehen sind nicht zu merken, der Film besticht durch einen ruhig-fließenden, ausbalancierten Rhythmus.
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Liebe auf Sibirisch - Ohne Ehemann bist du keine Frau! (C) doppelplusultra Film + TV-Produktion
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Max-Peter Heyne - 18. November 2017 ID 10380
Weitere Infos siehe auch: http://liebe-auf-sibirisch.de
Post an Max-Peter Heyne
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