Filmstart: 10. April 2014
Schnee von gestern (IL/D 2014)
Buch und Regie: Yael Reuveny
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Ein Foto, ein Familienmythos und
ein tragisches Geheimnis
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Als Michla Pariser von dem Brief erfuhr, schenkte sie ihm keinen richtigen Glauben. Dann hätte sie ihren Bruder nämlich zum dritten Mal verloren, und das hätte die alte Dame wohl nicht gut verkraftet. Michla und ihr Bruder Feiv'ke Schwarz waren osteuropäische Juden und die einzigen aus ihrer Familie, die den Holocaust überlebt hatten. Sie verabredeten sich 1945 am Bahnhof im polnischen Lodsch und als Feiv'ke nicht erschien, stand für seine Schwester Michla fest, dass nun auch ihr letztes Familienmitglied tot war. Mit diesem Verlust lebte sie fortan in Israel. Das einzig existierende Familienfoto aus der Vorkriegszeit zeigt die Geschwister im Kreise ihrer Familie.
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Links unten die Geschwister Feik've und Michla Schwarz vor dem Krieg © privat, Film Kino Text
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Michla Pariser (geborene Schwarz) und Feiv'ke Schwarz sind die eigentlichen Hauptpersonen des Films, obwohl beide nicht mehr leben. Michla verstarb 2001, doch ihre Enkeltochter Yael Reuveny wurde Filmemacherin und hat sich auf Spurensuche begeben. Während der Familienmythos besagte, dass Michla die einzige Überlebende der Shoah in ihrer Familie war, stand seit 1995 ein Brief im Raum, den ein gewisser Uwe Schwarz geschrieben hatte. Darin behauptete er, der Sohn von Feiv'ke Schwarz zu sein. Die Geschichte erschien um so unglaubhafter, als Feiv'ke nach dem Krieg eine Deutsche geheiratet und bis zu seinem Tod 1987 in der Ortschaft Schlieben als braver DDR-Bürger unter dem Namen Peter Schwarz gelebt haben soll. Damit hätte er sein Leben in unmittelbarer Nähe des Konzentrationslagers verbracht, in das man ihn deportiert hatte. Das Ehepaar hätte drei Kinder gehabt und sei sehr glücklich gewesen. Die Geschichte stellte sich jedoch als wahr heraus, und als Michlas Enkelin Yael Reuveny erwachsen war, beschloss sie, aus ihrer Familiengeschichte eine Filmdokumentation zu machen.
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Uwe Schwarz und Yael überprüfen die Dokumente und Fakten © Film Kino Text
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Yael Reuveny ist die Großnichte des Peter/Feiv'ke Schwarz, und sie trifft sich mit dessen Sohn Uwe, ihrem Cousin zweiten Grades. Uwe zeigt ihr die Umrisse des ehemaligen Konzentrationslagers Schlieben, wo jetzt zum Teil normale Häuserreihen stehen. Den Rest hat sich die Natur zurückgeholt, nur noch Ruinen erinnern daran, dass die Gegend mal bebaut war. Uwe hat als Kind auch dort gespielt, sein Vater hat diesen Ort aber immer gemieden. Die Kinder haben irgendwann von der Vergangenheit erfahren, wissen auch, dass sie Halbjuden sind, aber wirklich darüber gesprochen hat Peter/Feiv'ke Schwarz mit ihnen nie. Also machen sich nun, mehr als 65 später, die Nachfahren auf die Suche nach Antworten. Uwe und Yael bereisen die Stätten der Vergangenheit von Michla und Feiv'ke, dazu gehören der ehemalige Wohnort in Vilnius und der Bahnhof in Lodsch. Während sich Yael nur zögernd herantastet, ist Uwe aktiver. Er will einen neuen Grabstein für seinen Vater machen lassen, auf dem auch dessen jüdischer Name steht. Yael weiß nicht, ob das ihrem Großonkel recht gewesen wäre. Hat er doch mit der Änderung seines Namens Feiv'ke in Peter seine jüdische Identität abgelegt und mit seiner Herkunft so vehement gebrochen, wie seine Schwester Michla sie angenommen und sich erhalten hat. Ein unvereinbarer Gegensatz, und Michlas Reaktion auf den Brief, dass ihr Bruder eine Deutsche geheiratet und in dem verhassten Deutschland gelebt hätte, war unvereinbar mit ihrer Lebenseinstellung. Die Nachfahren stehen vor einem Rätsel.
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Helga Krüger, die Schwägerin von Peter Schwarz blättert mit Yael im Familienalbum © Film Kino Text
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Einzig die herzliche „Tante Helga“, die Schwester von Feiv'kes verstorbener Frau, bringt ein wenig Licht ins Dunkel. Sie sagt, dass die beiden sich unverbrüchlich geliebt hätten. - Hier ist leider auch eine Leerstelle im Film. Wir erfahren kaum Einzelheiten über Feiv'kes Frau und ihre Ehe. Aber diese Liebe ist eigentlich etwas ungeheuer Großes gewesen, weil sie sich über Religionen, die Gräuel des Holocausts, politische Ideologien und so viel Trennendes hinweg erhoben hat. War da eine Großtat an Vergebung von Feiv'kes Seite im Spiel oder hat er seine Herkunft nur komplett verdrängen können? War es ihm lieber, von seiner Schwester tot geglaubt als verdammt zu werden?
Doch Schnee von gestern ist auch ein Film über die Lebenden. Yael ist eigentlich eine typische Vertreterin der Enkelgeneration der Holocaust-Überlebenden, denn wie viele von ihnen stellt sie aktive Nachforschungen an und will in irgendeiner Form damit ohne Verdrängung leben können. (Siehe auch Die Wohnung von Arnon Goldfinger und Oma und Bella von Alexa Karolinski). Es ist für ihre israelische Familie völlig unverständlich, dass sie nach Berlin gezogen ist und freiwillig im Land der Täter lebt. (Allein in Berlin leben 17.000 junge Israelis). Doch für Yael ist das eine wichtige Erfahrung. Sie hat auch ein deutsches Pendant aus der Enkelgeneration der Täter, ihren Cousin dritten Grades. Es ist Feiv'kes Enkelsohn Stephan Kummer. Der studiert Jüdische Geschichte, arbeitet in einer Synagoge und träumt davon, nach Israel zu gehen. Yael macht ihn darauf aufmerksam, dass er nur Vierteljude ist, doch seine Identifizierung mit dem Judentum ist stärker. Er hat ein etwas romantisiertes Bild von Israel, meint seine Auseinandersetzung mit dem Judentum aber ernst. Er besucht seine Verwandten in Israel und erweist sich mit seinen Kenntnissen der jüdischen Religion und hebräischen Sprache als durchaus präsentable Verwandtschaft. So haben die Enkel Yael und Stephan den Durchbruch geschafft und unvereinbare Gegensätze überbrückt, auch wenn es vielleicht doch noch eine weitere Generation brauchen wird, bis auch noch der Rest Beklemmung verschwunden ist.
Bewertung:
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Helga Fitzner - 9. April 2014 ID 7741
Siehe auch: EUROPÄISCHES JUDENTUM IM FILM
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