Filme, Kino & TV
Kunst, Fotografie & Neue Medien
Literatur
Musik
Theater
 
Redaktion, Impressum, Kontakt
Spenden, Spendenaufruf
Mediadaten, Werbung
 
Kulturtermine
 

Bitte spenden Sie!

KULTURA-EXTRA durchsuchen...

Unsere Neue Geschichte (Teil 31)

Der Aufstand

der Würde



Bewertung:    



Der Schweizer Regisseur und Autor Milo Rau ist bekannt dafür, sich in seiner Medienarbeit interkulturell mit gesellschaftlichen, politischen und religiösen Fragen auseinanderzusetzen. Als feststand, dass die süditalienische Stadt Matera 2019 Kulturhauptstadt Europas werden sollte, wurde er gebeten, dort einen Film zu drehen. Er hatte sofort im Kopf, dass Matera der Drehort des legendären Werks Das 1. Evangelium – Matthäus (1964) von Pier Paolo Pasolini war und Mel Gibson dort im Jahr 2003 Die Passion Christi drehte. Also war für Rau klar, dass er dort ebenfalls einen Film über Jesus produzieren würde - und zwar unter dem Aspekt, was dieser wohl in der heutigen Situation unternehmen würde. Rau verwebt in Das Neue Evangelium drei Ebenen miteinander: die biblische Geschichte des Leidens Christi, das Casting und die Dreharbeiten zu dem Film sowie das Elend der afrikanischen Flüchtlinge, die dort in der Landwirtschaft sklavenähnlich Arbeit verrichten. Milo Rau erklärt: „Ziel war es, den ursprünglichen Geist als Passionsgeschichte der sozial Benachteiligten, der Armen, der Arbeitslosen, der Ausgestoßenen, der Ausgegrenzten und der Flüchtlinge zu bewahren. Allein in Italien leben mehr als 500.000 Menschen im Untergrund in inoffiziellen Lagern.“

Trotz der drei Ebenen wirkt der Film homogen, denn er beleuchtet dasselbe Thema, nur aus verschiedenen Blickwinkeln, die alle einen Realitätsbezug haben. Die biblischen Szenen sind eindeutig eine Verbeugung vor Pasolini. In den 1940er Jahren entstand in Italien der Neorealismus im Film, zu deren führenden Vertretern Roberto Rosselini, Vittorio de Sica und Luchino Visconti gehörten, die eine beabsichtigte Opposition zum Faschismus herstellten. Anfang der 1960er Jahre etablierte sich der „Zweite Neorealismus“, zu dem Pasolini zählt. Er deckte den mehr oder weniger latenten Faschismus auf, seine Figuren waren vielfach arme, oft ausgegrenzte Menschen, die gegen die autoritären Strukturen aufbegehrten.

Das passt nahtlos zum Italien der Jetztzeit, in dem ähnliche politische, gesellschaftliche wie soziale Fragen auftauchen. Rau zeigt Ausschnitte von den Castings, in denen er die AnwärterInnen nach ihrer Motivation und nach ihren Vorstellungen befragt. Ein Bürgermeister wünscht sich die Rolle des Simon von Zyrene, der das Kreuz ein Stück für Jesus trug, als dieser keine Kraft mehr hatte. Der Bürgermeister spricht begeistert davon, sich selbst als Diener des Staates zu sehen, und er spielt die Rolle ganz gut. Ein anderer Darsteller will eine gewalttätige Rolle. Milo Rau verzichtet auf exzessive Gewaltdarstellung, wie in Mel Gibsons Film, aber er lässt den Bewerber mit einer Peitsche einen schwarzen Stuhl misshandeln. Es ist erschreckend genug, wie viel Vorurteile und Fremdenhass sich in dieser Szene auftun. Doch es ist wichtig, auch die Auswüchse der Überforderung der ItalienerInnen (und der BewohnerInnen anderer Mittelmeerstaaten) zu zeigen, die von der Europäischen Union mit der Flüchtlingsproblematik so gut wie alleine gelassen werden.

Im ländlichen Italien leben nicht genug Menschen, um die alljährlichen Ernten einzufahren. Zahlreiche afrikanische Flüchtlinge versuchen, in dieser Nische ein Einkommen zu finden. Sie arbeiten in brütender Hitze den ganzen Tag, und am Ende bleiben ihnen gerade mal 30 Euro übrig. Ihre Unterkünfte sind provisorisch und menschenunwürdig. Ihre Auftraggeber haben auch kein Interesse daran, dass sie sich dort einrichten, denn die Camps werden gelegentlich von der Polizei zwangsgeräumt, sodass den AfrikanerInnen nur die Möglichkeit bleibt, dorthin zu ziehen, wohin anderswo noch ErntehelferInnen gebraucht werden. Deswegen sorgt auch keiner dafür, dass die Flüchtlinge Papiere bekommen, denn nur so bleiben sie rechtlos. Die meisten von ihnen mussten Wüsten durchqueren, haben die Überfahrt auf einem Flüchtlingsboot überlebt, einige Frauen waren der Zwangsprostitution ausgesetzt, und endlich in Europa angekommen, finden sie unmenschliche Arbeits- und Lebensbedingungen vor. Im Film heißt es: „Nicht der Flüchtling ist der Feind, sondern der, der ihn zur Flucht zwingt.“



Yvan Sagnet, der auch die Rolle von Jesus spielt, setzt auf politischen Aktivismus | © Fruitmarket Langfilm II PM Armin Smailovic


Der aus Kamerun stammende Afrikaner Yvan Sagnet, der auch den Jesus in den Bibelszenen spielt, ist politischer Aktivist. Er ist in der Realität der Anführer einer Revolte, rivolta della dignita, in der die Flüchtlinge für ihre Würde streiten. Ihm ist das in der Vergangenheit schon erfolgreich gelungen, und er kennt sich mit der Organisation von Protestaktionen aus. Er sagt über den Film:"


„Die Nachstellung der Passion Christi ist ein Weg, mit einer der größten Krisen unserer Zeit umzugehen. Überall und zu jeder Zeit spielt sich eine Passionsgeschichte ab: auf dem Mittelmeer genau wie bei den Black-Lives-Matter-Aufständen in den USA... An der aktuellen Politik ist alles falsch: Migrations- und Asylpolitik, wirtschaftliche Entwicklungsstrategien, Schutz der Menschenrechte – wir stecken in einer globalen Krise, die ausweglos zu sein scheint. Das dürfen wir nicht länger hinnehmen. Der Würde der Landlosen, der Würde aller Menschen und der Würde der Natur muss beim Aufbau einer gerechteren Welt Priorität eingeräumt werden.“


Modern ausgedrückt, hat Jesus sich für Menschenrechte eingesetzt, und Rau zeigt die Zeitlosigkeit des Kampfes um sie. Wir sind auch heute von der Verwirklichung der Gleichheit aller Menschen weit entfernt und davon, dass das Christentum ursprünglich eine Befreiungsreligion war. Idealerweise erkennt der Mensch seinen eigenen und den Wert eines jeden seiner Mitmenschen an. Aus diesem Bewusstsein des Selbst und dessen Bezug zur Umgebung könnte potentiell eine sozial ausgerichtete Menschheitsfamilie entstehen. Das glatte Gegenteil zeigte Rau in vielen seiner Theaterinszenierungen und schon 2017 in dem Film Das Kongo Tribunal. Dort werden schwere Menschenrechtsverletzungen im Rahmen eines fiktiven Gerichtsprozesses unter realen Bedingungen aufgearbeitet. Am Ende werden die EU und die Weltbank dafür verurteilt, unter Einhaltung juristischer Regeln und mit echten Richtern. Das Neue Evangelium ist keine solche Gerichtsverhandlung, aber trotzdem eine Anklage an die Europäische Union und die italienische Politik. Rau geht mit der Kamera in die Unterkünfte der Flüchtlinge hinein. Solche Einblicke in das Elend werden von den Autoritäten gerne verhindert. Gleichzeitig ist in der Nähe ein fast fertiges Containerdorf errichtet worden, das leer steht, und es werden auch keine Anstalten unternommen, die Flüchtlinge dort unterzubringen. Die EU stellt, dies muss auch erwähnt werden, Gelder zur Verfügung, aber die Umsetzung der Projekte funktioniert nicht richtig.

Für den biblischen Teil hat Rau Enrique Irazoqui als Schauspieler angeworben, der damals bei Pasolini den Jesus spielte und nun Johannes den Täufer. Rau lässt ihn stellenweise auch Regie führen. Die Rolle der Mutter Maria bekam Maia Morgenstern, die sie schon für Mel Gibson spielte. Wie Pasolini setzt Rau auch viele LaiendarstellerInnen ein, deren aussagekräftige und markante Gesichter sehr eindrücklich sind. Die meisten AfrikanerInnen sind ebenfalls Laien und tragen insbesondere den Filmteil der Revolte. Der Kampf um ihre Menschenwürde ist ein schwieriger, und sie führen ihn gewaltlos. Das schlägt dann auch die Brücke zum biblischen Jesus und zeigt, dass politischer Aktivismus und Gewaltlosigkeit Hand in Hand miteinander gehen können – und müssen, wenn wir wirklich etwas erreichen wollen. Es wird kaum eine positive Veränderung „von oben“ kommen, sei es durch die Politik oder von Gott. Der wahre Wandel muss von innen her und aus uns selbst erwachsen. Einige der afrikanischen ProtagonistInnen stellen am Ende ihr eigenes, unabhängiges Projekt vor. Eigeninitiative und der Zusammenschluss mit anderen ist wichtig, wie rivolta della dignita es vormacht.

*

Rau hätte von der Passionsgeschichte her den Film durchaus auf die Zeit vor Ostern verschieben können. Aber die Kinos (das gilt auch für die meisten Kunstschaffenden) sind JETZT bedroht. Also gibt es den Film als Video on demand und 30 Prozent der Einnahmen gehen an ein Kino Ihrer Wahl.
Helga Fitzner - 16. Dezember 2020
ID 12653
Unter der nachstehenden URL erwirbt der Zuschauer sein Online-Kinoticket und wählt gleichzeitig ein Kino aus, das er am Erlös beteiligen möchte. Dieses Kino erhält dann 30 Prozent des Preises eines digitalen Tickets. Der Film Das neue Evangelium ist nach Bezahlung und anschließender Aktivierung der Ticket-ID 24 Stunden streambar. Zusätzlich wird als Bonusmaterial ein Q&A mit Regisseur Milo Rau und dem Hauptdarsteller und Politaktivisten Yvan Sagnet abrufbar sein.

https://dasneueevangelium.de/


Post an Helga Fitzner

Dokumentarfilm

DVD

Filmkritiken

UNSERE NEUE GESCHICHTE



Hat Ihnen der Beitrag gefallen?

Unterstützen auch Sie KULTURA-EXTRA!




 

FILM Inhalt:

Rothschilds Kolumnen

BERLINALE

DOKUMENTARFILME

DVD

EUROPÄISCHES JUDENTUM IM FILM
Reihe von Helga Fitzner

FERNSEHFILME

HEIMKINO

INTERVIEWS

NEUES DEUTSCHES KINO

SPIELFILME

TATORT IM ERSTEN
Gesehen von Bobby King

UNSERE NEUE GESCHICHTE


Bewertungsmaßstäbe:


= nicht zu toppen


= schon gut


= geht so


= na ja


= katastrophal

 


Home     Datenschutz     Impressum     FILM     KUNST     LITERATUR     MUSIK     THEATER     Archiv     Termine

Rechtshinweis
Für alle von dieser Homepage auf andere Internetseiten gesetzten Links gilt, dass wir keinerlei Einfluss auf deren Gestaltung und Inhalte haben!!

© 1999-2024 KULTURA-EXTRA (Alle Beiträge unterliegen dem Copyright der jeweiligen Autoren, Künstler und Institutionen. Widerrechtliche Weiterverbreitung ist strafbar!)