RADU
MIHĂILEANU
Die Beschaffenheit der Menschen und der Welt
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Radu Mihăileanu am Set | (C) Prokino Filmverleih
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Radu Mihăileanu wurde 1958 in Bukarest geboren und lebt in Frankreich. Er ist der Sohn eines Überlebenden der Shoah und thematisiert als Regisseur und Drehbuchautor in seinen Filmen oft das Judentum, Diktaturen und Unterdrückung. Er stellt dabei den Aberwitz und den Humor in den Vordergrund, was auch auf sein jüngstes Werk Die Geschichte der Liebe zutrifft. [Seine Filme Geh und lebe und Das Konzert hatten wir im Rahmen unserer Reihe EUROPÄISCHES JUDENTUM IM FILM bereits besprochen.]
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Als im Jahr 2000 Ihr Film Zug des Lebens herauskam, wurde in Deutschland diskutiert, ob man ein Thema wie den Völkermord an Juden auf humorvolle Art darstellen sollte.
Radu Mihăileanu: Ich benutze den Humor gegen die Tragik und gegen die Dunkelheit. Ich weiß nicht, ob das jetzt unbedingt philosophisch ist, aber das ist meine Lebenseinstellung. Wir sind alle zum Sterben verurteilt, und unser Leben dauert doch nur eine Sekunde. Während dieses kurzen Lebens erfahren wir sehr viele Tragödien, und die Shoah, die Sie gerade erwähnten, ist die größte davon. Aber ich versuche der Traurigkeit zu widerstehen und habe mir die Pflicht auferlegt, die Erinnerung daran wachzuhalten und zu analysieren, was uns damals widerfahren ist. Ich stehe dem Leben, der Gesellschaft und der Geschichte aber nicht naiv gegenüber. Ich wehre mich gegen die Dunkelheit, indem ich mein Leben lebe und den Humor nicht verliere. Mein Leben währt nur diese eine Sekunde, aber ich weiß, dass diese Sekunde ein Wunder ist. Dieses Wunder des Lebens gibt jedem die Möglichkeit, seine Fähigkeit zu entfalten, Humor zu entwickeln und Licht zu erschaffen. Das geht auch angesichts der größten Schicksalsschläge. Mein Film Zug des Lebens war genau das. Das gilt auch für meine anderen Filme, insbesondere für Die Geschichte der Liebe.
Da erweist sich die Hauptfigur Leo Gurski als wahrer Überlebenskünstler, der dabei aber nie seine Menschlichkeit einbüßt.
RM: Was sonst könnte ich denn dieser Tragödie entgegensetzen? Mein Vater ist damals deportiert worden, ich weiß also, wovon ich rede. Ich habe auch mit vielen anderen gesprochen, die im Konzentrationslager waren. Die sagen, dass das im Lager genau so war. Der einzige Weg zu fühlen, dass man noch lebendig ist und kein Tier oder keine Arbeitsmaschine, war der Humor und der spirituelle Geist. Da ist es auch ganz egal, was dir geschieht, ob das die Shoah, das Leben unter Diktaturen, wie die von Breschnew oder Ceaucesu: Meine Pflicht ist es, zu überleben, mit meiner Vorstellungskraft, meinem Geist, meiner Spiritualität und meinem Humor. Das war immer mein Weg, mich gegen die Dunkelheit zu behaupten.
Was bedeutet es für Sie, jüdisch zu sein?
RM: Das Judentum ist nicht nur eine Religion, ich gehöre auch dem jüdischen Volk an. Das ist also mehr als nur eine Glaubensrichtung. Ich glaube allerdings nicht, dass wir allein ein ausgewähltes Volk sind. Alle Menschen wurden auserwählt, um in aller Vielfalt zusammen auf dieser Erde zu leben. Gerechtigkeit und Frieden sollten dabei die Eckpfeiler sein. Da das nicht immer gelingt, halte ich es für meine Pflicht, über die Vergangenheit aufzuklären. Ich glaube nicht, dass wir es uns leisten können, da eine Pause zu machen.
Ich war mit meinem 13jährigen Sohn kürzlich eine Woche lang in Auschwitz. Er soll von den bösen, aber auch von den guten Seiten erfahren, von der Traurigkeit und den Glücksmomenten. Denn nur, wenn wir die Fehler kennen, können wir verhindern, dass sich die Tragödie wiederholt. Er ist jetzt alt genug, um ein Mann zu werden. Ich habe ihm erzählt, dass es hier nicht nur um Deutsche und Österreicher geht. Es geht hier um die Menschheit. Er muss wissen, warum das geschah.
Warum ist es geschehen?
RM: Aus vielen Gründen. Das ist eine menschliche Sache. Da geht es nicht nur darum, wie die Entwicklung nach dem Ersten Weltkrieg zu großer Frustration führte und den Zweiten Weltkrieg begünstigte. Wir leben insgesamt in einer unausgeglichenen Welt. All diese Elemente haben dazu beigetragen, dass die Menschen verrückt und zu Maschinen geworden sind. Das war nicht nur in einem Land so, es geht dabei um die Menschheit an sich und warum sie in der Lage ist, so etwas zu tun. Das ist aus Frustration und Ärger entstanden, und dann kam noch die Dummheit dazu. Und das war Absicht. Deswegen muss darüber gesprochen werden und den Menschen gesagt werden, dass sie verantwortlich sind für das, was sie tun. Unsere Pflicht liegt meines Erachtens darin, dass wir mit der Wissensvermittlung so früh wie möglich anfangen. Durch Bildung und Kultur können wir Kindern und Jugendlichen Werkzeuge an die Hand geben, mit denen sie die Beschaffenheit der Welt ergründen und die Natur des Menschen entschlüsseln können. Das befähigt sie später, eine friedliche Welt zu erschaffen, die vernunftbezogen, verantwortungsvoll, vielschichtig und eine wundervolle Welt ist. Wenn wir ihnen diese Werkzeuge übermitteln, dann können sie ihre eigene Art der Beobachtung der Welt entwickeln, aber unsere Pflicht ist es, sie das Denken und Erkennen zu lehren.
In unserer Reihe EUROPÄISCHES JUDENTUM IM FILM gehen wir den vielfältigen Strategien und Möglichkeiten nach, wie Menschen, Opfer wie Täter, mit Geschehnissen wie der Shoah fertig werden können.
RM: Genau darum geht es. Wir müssen unser Denken offen halten und auch zu Diskussionen bereit sein, sonst werden Genozide kein Ende nehmen. Es gibt dabei so viele Standpunkte zu berücksichtigen, die der Opfer, die der Mörder, die derjenigen, die sagen, dass sie „nur“ Befehle ausgeführt hätten, und die derer, die davon gewusst haben, ohne etwas dagegen zu tun. Wenn die jungen Menschen das analysieren können, warum Menschen so etwas tun, sind sie vielleicht in der Lage, in der Zukunft Völkermord zu verhindern.
Sie haben eine sehr offene Art und signalisieren Gesprächsbereitschaft.
RM: Das hört allerdings dann auf, wenn jemand behauptet, die Shoah hätte es nie gegeben. Das akzeptiere ich nicht. Da kann man auch nicht reden. Das sind einfach Lügner. Man muss die Fakten berücksichtigen, die so vielfältig und unterschiedlich sind, und dann kann man die verschiedenen Standpunkte erkennen und die Mechanismen, die da abgelaufen sind. Warum haben sie das gemacht? Wie kommt es, dass ein Mensch dazu fähig ist?
Das ist heute nicht viel anders, wenn man bedenkt, wie viele Menschen jedes Jahr im Mittelmeer ertrinken oder auf der Flucht über Land ums Leben kommen. Wir sind für die Lage in Syrien und vielen anderen Ländern mit verantwortlich. Aber da ist kein Aufschrei.
RM: Das ist schon erstaunlich, wie der Mensch in der Lage ist, Rechtfertigungen für alles zu finden. Die Flüchtlinge aus Syrien und anderen Krisengebieten haben triftige Gründe, hierher zu kommen. Das hat es vor einem Jahrhundert alles schon gegeben. Wir machen uns Sorgen um Arbeitsplätze und dass unser Wohlstand eingeschränkt werden könnte. Aber diese Menschen kommen nicht aus Reiselust, sie sind verzweifelt und auf der Flucht vor Krieg, Folter und Tod. Das sind doch viel gewichtigere Gründe.
Es ist immer schmerzlich, wenn in den Nachrichten einfach nur die Anzahl der Ertrunkenen durchgegeben wird.
RM: Die Menschen sind zu einer Nummer geworden. Aber es geht hier nicht um Nummern. Es geht um Menschen und um jedes einzelne Schicksal. Wir müssen uns in sie hineinversetzen und schauen, wie wir ihnen helfen können.
Aber es gibt immer noch Leute, die Krieg und Gewalt für gerechtfertigt halten.
RM: Die verstehen es einfach nicht. Es ist jenseits ihrer Vorstellungskraft, dass sie im Unrecht sein könnten. Sie haben ihr Menschsein vergessen. Die Propaganda ist so überwältigend und tiefgreifend, dass sie glauben, das Richtige zu tun. Unter Pol Pot wurde in Kambodscha ein Drittel der Bevölkerung getötet. Die Mörder glaubten sich im Recht und hielten das für einen freudigen Krieg. Die dachten nicht eine Sekunde, dass sie Bastarde sind und rechtfertigten ihre Gräueltaten damit, dass es sich um schlechte Menschen gehandelt hätte, die getötet werden mussten, damit eine bessere Welt entstehen könne. Das ist reiner Wahnsinn; und wir müssen diese Geschichten verbreiten, damit wir daraus lernen können und die Beschaffenheit der Menschen besser verstehen.
Könnte jeder, auch Sie oder ich, ein Scherge im Konzentrationslager werden?
RM: Ich hoffe nicht. Das hängt von der Bildung und Kultur ab. Jeder trägt wohl das Potenzial zum Ungeheuer in sich, aber unsere Erkenntnisfähigkeit ermöglicht es uns, Propaganda zu entlarven und ihr keinen Glauben zu schenken. Dieses Unterscheidungsvermögen muss geschult werden.
Ich lebe in Frankreich; und dort ist es verboten, Immigranten zu helfen. Glücklicherweise gibt es Menschen, die ihnen trotzdem beistehen. Sie riskieren es, dafür vor Gericht gezerrt und verurteilt zu werden, aber es macht ihnen nicht aus, weil sie wissen, dass dieses Gesetz falsch ist.
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Radu Mihăileanu gibt genaue Regieanweisungen, Derek Jacobi und Sphie Nélisse am Set | (C) Prokino Filmverleih
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Können Filme die Welt verändern?
RM: Ich weiß nicht, ob sie die Welt verändern können, aber vielleicht unser Denken. Filme, Bücher, die Kunst, Bildung, die Eltern, alles zusammen beeinflusst, wie wir über die Welt denken. Es wird immer viel darüber diskutiert, wohin Gelder fließen sollen in dem Wissen, dass sich die Welt in einer Krise befindet. Für mich ist das klar. Wir müssen zu allererst in Bildung und Kultur investieren. Das macht uns zu intelligenten Menschen, mit der Fähigkeit, Krisen zu lösen. Wenn wir nicht in Bildung und Kultur investieren, dann kann auch keiner beurteilen, was in der Welt los ist und die Krisen beseitigen.
Zählen Sie Blockbusterfilme zur Kultur?
RM: Nein, die haben mit Kultur nichts zu tun. Das ist Unterhaltung, und auch die brauchen wir. In der Kultur und Kunst werden aber auch Dinge angesprochen, die wir nicht mögen. Auch die Filmkunst kann uns von der Welt erzählen und eine Vision haben, die Vision von etwas, das noch kein anderer so gesehen hat. Deshalb brauchen wir die Kunst.
In Die Geschichte der Liebe kommt nur sehr wenig Verurteilung der Shoah vor. Sind Sie in der Lage zu vergeben?
RM: Das ist die Sache meines Vaters. Der wurde deportiert. Danach hat er seinen Namen geändert und das erste Land, in dem er nach dem Krieg lebte, war Deutschland. Er wurde natürlich gefragt, wie er dort leben könne nach allem, was er durch die Nazis erleiden musste. Er sagte, dass er sich selbst beweisen wollte, dass es einen Unterschied gibt, zwischen DEN Deutschen und DEN Nazis. Er mochte Deutschland und hatte viele Freunde. Die erste Sprache, die wir, seine Kinder, lernten, war deutsch. Er war der Meinung, dass die Nazis im historischen Kontext zu sehen seien, dass dies in einer Zeit geschah, in der alle verrückt waren. Aber nicht alle waren Faschisten. Es gab auch den Widerstand.
Die heutigen Terroristen haben mit den Nazis viel gemein, indem sie eine falsche Ideologie propagieren. Islamisten, Terroristen und ISIS behaupten, dass sie Muslime wären, aber das stimmt nicht. Muslime sind nette Menschen, normale Menschen mit einem Glauben. Die Terroristen missbrauchen den Islam für ihre Zwecke. Das hat nichts mit Religion zu tun, das ist Faschismus.
Vielen Dank für dieses tiefgreifende Gespräch.
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Das Interview fand am 3. Juli 2017 in Berlin statt.
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Interviewerin: Helga Fitzner - 17. Juli 2017 (2) ID 10148
https://de.wikipedia.org/wiki/Radu_Mihăileanu
Post an Helga Fitzner
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