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DVD-Kritik

Ausbruch

aus der

Familien-

bande



Bewertung:    



In einer Schlüsselszene wünscht ein vereinsamter Sterbender, dass bei ihm eintreffende Unbekannte heile Familie spielen. Die Eintretenden sind eine Bande von Trickbetrügern mit finsterer Miene und in zu großen Klamotten. Sie möchten ihn eigentlich ausrauben. Old Dolio und ihre Eltern versuchen trotzdem den Wunsch des Sterbenden zu erfüllen. Sie klappern mit Geschirr, unterhalten sich über den erfundenen Tag und das Fernsehprogramm. Die vernachlässigte 26jährige Old Dolio erkennt im weiteren Verlauf, dass ihr elterliche Nähe und Zuwendung fehlen. Der Wunsch nach einer tatsächlich funktionierenden und sozusagen „normalen“ Familie keimt in ihr. Sie wagt erste Schritte unabhängig von den eigenbrötlerischen Eltern. Denn auch bei den Aussteigern könnte der Ausstieg möglich sein.

Die Coming-of-Age-Tragikkomödie Kajillionaire ist nach dem Möglichkeitsfilm The Future (2011) der lang ersehnte dritte Langfilm der begabten Allround-Künstlerin Miranda July. Erstmals spielt die Regisseurin und Autorin aus LA selbst nicht mit. Der Filmtitel verweist scherzhaft auf Superreiche. Eine „Kajillion“ ist nach dem Urban Dictionary ein umgangssprachliches Wort für eine übertrieben hohe Zahl.

Auch die Hauptfigur trägt einen ungewöhnlichen Namen: Old Dolio wurde nach einem obdachlosen Lottogewinner benannt. Ihre verschrobenen Eltern hofften, er würde ihr etwas vererben. Sie ist Kind unangepasster Gegner des erwerbszentrierten Kapitalismus. Die Dynes leben prekär und losgelöst von einer sozialen Existenz und gesellschaftlichen Konventionen. Sie plündern Postfächer in einem Vorort von L.A., fälschen Schecks und halten sich mit Gewinnspielen mehr schlecht als recht über Wasser. Da sie mit der Miete im Rückstand sind, möchten sie ihren Vermieter nicht unter die Augen treten. Auf dem Nachhauseweg schleichen sie so regelmäßig geduckt einen Zaun entlang.

Die Familie wohnt in einer schäbigen Bürohalle neben der Seifenschaumfabrik Bubbles Inc. Täglich rinnen feuchte rosa Blasen die Wand hinunter, die aufgefangen, geschaufelt und weggewischt werden müssen. Neben der routinemäßigen Beseitigung der Schaumreste erschüttern auch regelmäßig Erdbeben das Geschehen. Als die temperamentvolle und neugierige Puertoricanerin Melanie auf die Dynes trifft, verändern sich die Strukturen der Gruppe.

Evan Rachel Wood rührt als langhaarige, emotional verkümmerte, verloren und unbeholfen wirkende Old Dolio, die sich nach Geborgenheit und Wärme sehnt. Richard Jenkins mimt ihren skrupellosen, latent kaltherzigen, aber unter Angstattacken leidenden Vater Robert. Debra Winger verkörpert ihre spröde und lieblose Mutter Theresa. Der Umgang miteinander ist unterkühlt. Gehörig aufgelockert wird das Trio durch die abenteuerlustige Gina Rodriguez als Melanie, die sich körperbetont kleidet und warmherzig, gefühlvoll und fröhlich auftritt. Auch die Nebenrollen sind gut besetzt. So überrascht die Sängerin Da’Vine Joy Randolph in einer schrägen und berührenden Szene als übergewichtige Masseurin.

Wie schon die Charaktere in Miranda Julys Erzählband Zehn Wahrheiten (Original: No One Belongs Here More Than You, 2007) sind die Figuren gewohnheitsmäßige Einzelkämpfer, die stets auf der Suche scheinen. Mutig und manchmal auch verzweifelt spüren auch die Helden in Kajillionaire ihrem persönlichen Lebenssinn nach und forschen nach ihrem Savoir-vivre. Auch lesbisches Begehren spielt, wie in Julys Roman Der erste fiese Typ, eine Rolle, wenn Melanie Old Dolio eine Romanze anbietet. Man merkt es Kajillionaire an, dass die Geschichte lange entwickelt wurde. July schrieb das Drehbuch bereits 2017 und drehte dann 2018 in den USA. Die Tragikkomödie lebt von absurden, eigenwilligen und schrägen Szenen oder auch Kommunikationspatzern. Es ist berührend, wie viel Trost Old Dolio findet, wenn sie neue Wege ausprobiert.
Ansgar Skoda - 28. Oktober 2021
ID 13251
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