„Dauert es
noch lange?“
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Bewertung:
Schritte hallen durch die Nacht. Ein älterer Herr geht einer eleganten Dame minutenlang durch menschenleere Straßen hinterher. Bald dreht sie sich misstrauisch um, biegt flink seitlich in einen Hofeingang ein. Sie versteckt sich im Schatten einer Hauswand. Der untersetzte, ältere Herr hastet hinterher. Er atmet dabei schwer. Angriffslustig tritt sie aus dem Schatten hervor und konfrontiert ihn: „Warum verfolgen Sie mich?“ Er antwortet der ungläubigen Frau überraschend, dass er ihr Liebhaber von vor vielen Jahren sei. Er gibt Details ihrer früheren Liaison wieder. Erst guckt sie erstaunt, dann erinnert sie sich.
Der Franzose Laurent Larivière arbeitet in seinem Film Die Zeit, die wir teilen mit verschiedenen Zeitebenen, die ineinander spielen und verdichtet werden.
Lange Einstellungen zeigen anfangs Isabelle Huppert frontal an einem Autolenkrad. Sie spricht im Dunkeln durch ein mit Regenwasser benetztes Autofenster direkt in die Kamera. In der für Huppert typischen unbewegten Mimik erzählt sie hier als Verlegerin Joan Verra von ihrer Vergangenheit, in die filmisch überblendet wird.
Die junge Joan (Freya Mavor) flirtet am Busbahnhof mit einem jungen Mann. Er stiehlt einer hilflosen älteren Dame die Halskette, während er ihr aktuelle Bahnhofsansagen erklärt. Die Kette gibt er Joan. Später schlafen Joan und Doug miteinander und planen bald weitere derartige Diebstähle. Diesmal dient Joan als Lockvogel, um hilfsbereite Männer um ihre Brieftaschen zu bringen. Als beide ins Gefängnis gesperrt werden, verlieren sich ihre Wege.
Mehrfach-Besetzungen einzelner Figuren ähneln sich kaum. So wundert es etwa, dass Verras Liebhaber Doug als junger Mann erst schlank, glattrasiert, verhärmt und verschmitzt herausfordernd wirkt (Éanna Hardwicke), später dann untersetzt, bärtig, leidenschaftslos, behäbig und ausdrucksschwach (Stanley Townsend). Auch der Sohn der alleinerziehenden Mutter Joan, Nathan, hat vom Kind (Louis Broust) zum Jugendlichen (Dimitri Doré) bis hin zum erwachsenen Mann (Swann Arlaud) eine sichtlich große Wandlung durchgemacht. Das Drama bietet für die verschiedenen Lebensphasen und Typen dieser recht inkongruenten Figur jedoch eine außergewöhnliche Auflösung.
In der Jetztzeit erscheint Verra in einem großen Haus mit prachtvollem Garten recht verloren und einsam. Ein willkommener Sidekick ist im hier relativ handlungsarmen Drama Lars Eidinger als egozentrischer und unangepasster Schriftsteller Tim Ardenne, der in Verra, seine unnahbare Verlegerin, verliebt ist. Komische Szenen zeigen ihn als provozierenden Sonderling in einer Interviewsituation mit einem verschämten und wenig schlagfertigen dafür aber kölschelnden Fernsehjournalisten. Auch während einer Signierstunde reagiert der betrunkene Ardenne befremdend dramatisch und unvorhergesehen selbstverletzend. Bald nimmt Verra ihren rebellischen Schützling ganz unter ihre Fittiche. Der vorhersehbare erste Kuss, den Verra Ardenne gibt, wirkt noch etwas mütterlich. [In Interviews schwärmte Eidinger übrigens von diesem Kuss mit seinem Filmidol Huppert.] Gegen Ende teilen jedoch beide langfristige Zukunftspläne. Ardenne drängt dann durch seine Frage „Dauert es noch lange?“ zur Eile. Da gleitet die Kamerafahrt schon über sonnenbeleuchtete Baumstämme gen Himmel.
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Die Zeit, die wir teilen ist filmästhetisch eine Ausstattungsorgie. Kamerafrau Céline Bozon arbeitet mit ungewöhnlichen Einstellungen. Die Räume sind oft lichtdurchflutet, und die Französin zeigt kunstvoll komponierte Bilder. Leider überlagert die rätselhafte Atmosphäre den Inhalt. Einige Szenen spielen in Köln und zeigen schöne Außenaufnahmen vom Dom. Insbesondere sind auch surreale oder experimentelle Einstellungen reizvoll:
Einmal gleitet eine Maus als Versuchsobjekt durch ein Gefäß mit milchiger Flüssigkeit. Wenige Sekunde später wird aus der nun von oben gefilmten Maus Isabelle Huppert, die nun mit hochgestecktem Haar durch ebendiese Flüssigkeit schwimmt. Das Weiß dehnt sich bis zum Horizont. Ein Bild für eine noch offene, ungewisse Zukunft.
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Ansgar Skoda - 7. März 2023 ID 14090
Weitere Infos siehe auch: https://www.camino-film.com
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