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DVD-Kritik

Befremdend



Bewertung:    



In der Fremde erscheinen der Hauptfigur die eigenen sozialen Wahrnehmungen fremd geworden. Xhafer flüchtete vor vielen Jahren aus dem Kosovo nach Deutschland. Heute arbeitet Xhafer hier als Pharmaingenieur. Er lebt in einer biederen Vorort-Siedlung mit seiner deutschen Frau und den gemeinsamen drei Kindern. Zu Filmbeginn klafft eine tote Ratte am Vorgartentor des Einfamilienhauses. Es werden ein brennender Kinderwagen und tote Ratten im Briefkasten folgen. Wie konnte es dazu kommen, und wer steckt dahinter? Als Zuschauer lässt sich oft nur mutmaßen. Vieles wird in Exil bewusst offen gelassen oder nur angedeutet. Das Unergründliche und Rätselhafte wird teilweise durch plötzliche Szenenwechsel auch inszeniert.

Das Thriller-Drama Exil nimmt nahezu immer die Perspektive der Hautfigur Xhafer (dargestellt von Mišel Matičević) ein. Xhafer meint, auf der Arbeit gemobbt und schikaniert zu werden. Tatsächlich erhält er relevante Rundmails seiner Kollegen nicht oder wird in gemeinsamen Meetings offen angegriffen und kritisiert. In Begrüßungen wiederholt er seinen Vornamen gleich dreimal, bis die Kollegen den Namen verstehen und auch dann noch nicht mit der richtigen Betonung aussprechen. Das Gesicht Xhafers wird bei kollegialen Begegnungen in Nahaufnahme gezeigt. Er wirkt unbeteiligt, in sich ruhend, mit permanenten Anflug eines Lächeln. Statt der Stimmen der miteinander sprechenden Menschen gibt der Film Klänge klassischer Musik wieder. Der oft nur schweigende Kontakt – etwa auch mit abweisenden Kollegen im Fahrstuhl – erscheint befremdlich förmlich. Eine mögliche Relevanz des Gesagten wird nicht greifbar, und Nachfragen werden knapp abgetan. Regelmäßige Szenenwechsel und lange Einstellungen von anonym austauschbaren Bürofluren oder trostlosen Autofahrtstrecken in dunklen, bräunlich dumpfen Tönen steigern die bedrückende Grundstimmung des Films. Die Gesichter aller Figuren glänzen bei Nahaufnahmen fettig.

Xhafers tüchtige Ehefrau (Sandra Hüller) lockert das recht kafkaeske Personengefüge etwas mit pragmatischen Mutmaßungen. Sie meint, dass die Konflikte mit den Kollegen keine rassistischen Hintergründe haben müssen. Mögliches Mobbing wird im Nachhinein zuhause schon einmal mit Worten wie „Gerede halt“ und „vielleicht mögen sie dich einfach nicht“ abgetan. Alleine durch Blicke und Gesten entsteht zwischen Xhafer und seiner Frau eine spannungsvolle emotionale Intensität. Das Wesentliche bleibt unausgesprochen und bis zuletzt unklar. Die Mutter und Hausfrau erscheint jedoch bald überfordert, die drei Kinder, ihre Doktorarbeit und Xhafers möglicherweise beginnende Paranoia unter einen Hut zu bringen. Gleichzeitig gerät sie auch in das Visier von Xhafers Misstrauen. So regt es ihn etwa auf, wenn eine Klobrille nicht geschlossen ist. War da etwa ein anderer Mann? Wütend erklärt sie ihm, dass kein anderer Mann „in sein Revier gepinkelt hat“ sondern sie sich übergeben habe. Xhafer verfolgt sie später eifersüchtig mit dem Auto.

Hier nimmt der Film eine interessante Wendung. Denn Xhafer wird selbst nicht nur als mögliches Opfer gezeigt. Während er die Wege seiner Frau argwöhnisch beobachtet, geht er selbst fremd. Er vögelt auf der Herrentoilette mit der Firmen-Raumpflegerin. Sie hofft privat auf Briefübersetzungen von ihm. Und der impulsive Filmheld wird auch schon einmal handgreiflich. So würgt er im albtraumbelasteten Schlaf gar seine Frau. Einmal erzählt Xhafer aus dem Off über prägende Erfahrungen im Kosovo. Rühren seine Albträume von traumatischen Lebenserfahrungen? Am Ende gibt es die eine oder andere Überraschung. Doch das unausgesprochen Abstruse bleibt. Den Abspann begleitet dann atmosphärisch traditionelle albanische Musik, Unë Në Kodër, Ti Në Kodër (dt.: Ich auf dem Hügel, du auf dem Hügel) vom Elina Duni Quartet. Das ist der einzige Verweis im permanenten Fremdsein des Protagonisten auf seine albanische Herkunft.

Regisseur und Drehbuchautor Visar Morina, 1979 in Pristina im Kosovo geboren, kam selbst mit 15 Jahren nach Deutschland. Sein Langfilmdebüt Babai (2016) handelte von einem alleinerziehenden Vater im Kosovo, der seinen zehnjährigen Sohn zurücklässt, um sich in Deutschland ein neues Leben aufzubauen. Schon Babai wurde 2016 als Oscar-Beitrag des Kosovo eingereicht. Für das Drehbuch zu Exil erhielt Morina 2018 den Deutschen Drehbuchpreis. Der von Regisseurin Maren Ade (Toni Erdmann, 2016) mitproduzierte Film wurde von der Republik Kosovo als Beitrag für die Oscarverleihung 2021 in der Kategorie Bester Internationaler Film eingereicht. Exil gelangte auch in die Vorauswahl für die Golden Globe Awards 2021.

Ansgar Skoda - 2. Februar 2021
ID 12726
Weitere Infos siehe auch: https://www.alamodefilm.de/medium/detail/exil.html


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