Europäisches Judentum im Film
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"Dich wird keiner fragen" (Johnny zu Nelly)
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Bewertung:
Zwei jüdische Frauen haben den Holocaust überlebt. Ihr Schicksal und ihre Einstellung zu den Geschehnissen könnten nicht gegensätzlicher sein. Lene (Nina Kunzendorf) konnte sich vor dem Zugriff der Nazis nach London und in die Schweiz absetzen. Nach dem Krieg kehrt sie in das zerstörte Deutschland zurück und arbeitet für die Jewish Agency, die sich für die überlebenden Juden einsetzt. Dort trifft sie auch ihre ehemalige Freundin Nelly (Nina Hoss) wieder, die im Konzentrationslager war und mit schweren Gesichtsverletzungen aufgefunden wurde.
Lene leidet an der Survivor's Guilt, einem Schuldgefühl, dass sie selbst überlebt hat, während so viele andere ermordet wurden. Sie hat ihre Vergangenheit abgestreift, hilft effektiv, wo sie kann, und möchte mit Nelly nach Palästina gehen. Nelly will sich im Gegensatz zu Lene ihre verloren gegangene Identität zurückholen. Im KZ ist sie entmenschlicht worden, war eine Nummer allenfalls. Ihr zerstörtes Gesicht ist ein anschauliches äußeres Bild für die innere Zerstörung, die das KZ angerichtet hat. Als der Gesichtschirurg sie fragt, nach welchem Vorbild er ihr neues Gesicht modellieren soll, ist sie entsetzt und gibt ihm ein Bild von sich selbst. Er soll ihr kein neues Gesicht schenken, sondern ihr ihr eigenes zurück geben, so gut es noch geht.
Nach Nellys Genesung hat Lene schon konkrete Vorschläge, wo sie sich mit ihr in Palästina ein neues Leben aufbauen will. Doch Nelly macht sich auf die Suche nach ihrem nicht-jüdischen Ehemann, Johnny (Ronald Zehrfeld). Sie glaubt, dass er sie gerettet hat, weil er so lange zu ihr gehalten hätte. Verdachtsmomente, dass er selbst es war, der sie verraten hat und dass er sich von ihr hat scheiden lassen, blendet Nelly aus. Sie glaubt, nur Johnny kann ihr ihre Identität zurückgeben. Tatsächlich findet sie ihn, allerdings erkennt er sie nicht, so fest ist er von ihrem Tod überzeugt. Aber er will ihre Ähnlichkeit mit seiner Frau für einen Betrug nutzen. Nelly ist vermögend, und der vermeintliche Witwer will an ihr Vermögen heran. Nelly soll seine Frau, also sich selbst spielen, damit er an das Erbe herankommt – und Nelly macht mit.
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Nelly (Nina Hoss) ist verzweifelt. Ihr Mann Johnny (Ronald Zehrfeld) erkennt sie nicht | © Christian Schulz
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Nach dem Krieg wollte keiner wirklich wissen, was in den Konzentrationslagern geschehen war. Nellys Geschichte ist insofern bemerkenswert, dass sie mit Johnnys Hilfe nach und nach zumindest ihre alte Identität wieder erlernt. Diese Möglichkeit hatte wohl kaum einer der Überlebenden. Dabei merkt sie schon, dass sie nicht nahtlos an ihr altes Leben anknüpfen kann und sagt selbst, dass sie manchmal fast eifersüchtig auf die alte Nelly ist. Schritt für Schritt lernt sie, sich wie Nelly zu verhalten, sich wie Nelly anzuziehen und sich ihrem früheren Selbst anzunähern. Das hilft ihr nur bedingt, denn im Nachkriegsdeutschland ist die Vergangenheit wie eingefroren. Als der Augenblick von Nellys inszenierter Rückkehr naht, fragt sie, was sie denn erzählen soll, wenn sie jemand nach dem KZ fragt. „Dich wird keiner fragen“, ist Johnnys erschütternde Antwort. Jeder ist mit sich selbst und dem Wiederaufbau beschäftigt. Für die Aufarbeitung der Geschehnisse ist kein Raum.
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Lene (Nin Kunzendorf) hat ihr Leben im Griff – aber nur augenscheinlich | © Christian Schulz
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Während all der seelischen Torturen, die Nelly mitmacht, ist Lene ganz in den Hintergrund gerückt. Keiner merkt, unter welchem Leidensdruck auch sie steht. Es kommt zu einer Verzweiflungstat, für die es keine äußeren Anzeichen gegeben hat. Auch für diese Wahrnehmung war im Nachkriegsdeutschland kein Platz. Diese Generation hatte zu funktionieren, um zu überleben, und das kann man bei vielen alten Menschen als Verhaltensmuster heute noch beobachten.
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Nicht nur die Stadt liegt in Trümmern, auch das Leben der jüdischen Überlebenden. Nelly (Nina Hoss) ist wie Berlin in Stücke gerissen | © Christian Schulz
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Nelly hält weiterhin an ihrer Vorstellung fest, dass nur Johnny sie wieder zusammensetzen kann. Doch diese Person wurde im KZ ausgelöscht. Nach solchen Erlebnissen kann man nicht mehr wie vorher sein. Es war ihre Liebe zu Johnny, die ihr geholfen hat, das KZ zu überleben. Doch die Frage bleibt, ob ihre alte Identität Nelly auf Dauer etwas nützen würde, wenn es da keine Weiterentwicklung gibt.
Sowohl Opfer als auch Täter waren durch den Krieg oft traumatisiert. Ein Trauma löst aber eine Ertaubung der Gefühle aus. Christian Petzold hat auf Schreckensbilder aus dem KZ verzichtet, und Nina Hoss musste Nelly wegen der Traumatisierung mit einem sehr eingeschränkten Gefühlsspektrum spielen. Sie hat das körperlich umgesetzt: „Ich habe versucht, der Nelly vorher etwas Kindliches, auch etwas Fahriges, Haltloses zu geben, so wie ihre Haare, da ist alles so grau und eigentlich nicht da. Mit der Zeit formt sich der Körper wieder, sie fängt wieder an zu wissen, wer sie ist.“ Nelly hat sich den „Besitz“ ihres Körpers zurückerobert, der ihr durch im KZ abgesprochen worden war. Das ist zumindest ein Ansatz für eine Lösung, wie man nach solchen Gräueltaten erst einmal mit sich selbst umgehen kann. Selbst Autor und Regisseur Christian Petzold schien vom Ende überrascht zu sein, als die Dinge ihre Eigendynamik entwickelten: „Nelly hat eine Pistole. Sie tritt an den Bahnsteig, dem Zug entgegen. Am Schneidetisch dachte ich, dass hier alle Möglichkeiten einer klassischen Liebestragödie versammelt sind: Der Selbstmord, der Mord aus Leidenschaft, die Versöhnung. Nelly trifft eine andere Entscheidung. Ein Plan, der ihr gehört, den wir nicht vorhersehen. Nelly beendet den Film. Das stand so explizit nicht im Buch. Aber begriffen haben wir es erst, als wir es gedreht haben.“
Es kann bei der Überwindung von solchen Traumata helfen, wenn man sich selbst und seine Vergangenheit wieder in Besitz nimmt. Das gälte dann auch für Opfer und Täter. Wie schwer das ist, zeigt der Film ohne grausame Szenen am bloßen Nachkriegsalltag in Deutschland.
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Helga Fitzner - 27. September 2014 ID 8127
Weitere Infos siehe auch: http://www.phoenix-der-film.de/
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