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Französisches Kino

Zwischen Fakten

und Fiktion



Bewertung:    



In dem komplexen Gerichtsdrama Anatomie eines Falls der französischen Regisseurin Justine Triet wird der tödliche Fenstersturz eines Mannes untersucht, wobei sich keine eindeutigen Beweise finden lassen, ob es sich um einen Unfall, Suizid oder einen Mord handelt. In ihrem hervorragenden Skript beleuchten Triet und ihr Partner Arthur Harari den Fall aus verschiedenen subjektiven Blickwinkeln wie dem der Ehefrau Sandra (Sandra Hüller), ihres elfjährigen Sohns Daniel (Milo Machido Graner) sowie den am Prozess maßgeblich Beteiligten. In der Quintessenz geht es um die Unmöglichkeit, eine einheitliche allgemeingültige „Wahrheit“ zu finden, worin der Film von anderen Exemplaren seines Genres abweicht, in denen am Ende der Fall gelöst wird.

Eines Tages lag Sandras Ehemann Samuel (Samuel Theis) mit einer Kopfwunde tot im Schnee vor seinem Haus in den französischen Alpen. Da die Ursache des Sturzes und der Verletzung unklar sind, wird nach allen Seiten ermittelt, und Sandra schaltet den befreundeten Anwalt Vincent (Swann Alaud) ein, um sich auf die anstehenden Verhöre vorzubereiten. Das erweist sich als notwendig, denn es wird tatsächlich eine Mordanklage gegen sie erhoben, obwohl es keine Beweise oder stichhaltigen Indizien gibt. Der Staatsanwalt (Antoine Reinartz) versucht vehement und verbissen, Sandra als Mörderin zu überführen, indem er jede ihrer vorherigen und aktuellen Aussagen in der Luft zerreißt. Das verunsichert Sandra sehr, die zwischen Verletzlichkeit und einer ungemeinen Stärke hin und her schwankt. Sie ist die Mutter des elfjährigen Daniels, der seit einem Unfall mit vier Jahren erblindet ist und für den sie da sein muss gerade jetzt, wo er seinen Vater verloren hat.

Da sein Vater damals seiner Aufsichtspflicht nicht richtig nachkam, konnte er den Unfall nicht verhindern, gab sich die Schuld daran und ließ die daraus resultierenden psychischen Probleme behandeln. Hinzu kommen seine finanziellen Probleme und seine Unfähigkeit, ein Buch zu schreiben, während seine Frau schon mehrere Bücher veröffentlicht hat und im Nebenverdienst Übersetzungen macht, um über die Runden zu kommen. Samuel dagegen ist nicht in der Lage, sein Leben in den Griff zu bekommen. Das sind alles Begebenheiten, die für einen Freitod sprechen könnten. Während des Prozesses tritt die Unfalltheorie als unwahrscheinlich in den Hintergrund.

So bleibt nur noch zu klären, ob Sandra ausreichend Motive für einen Mord hatte. Sie war die einzige, die zum Todeszeitpunkt im Haus war, und es hatte in der Vergangenheit mehrfach Streitereien zwischen den Eheleuten gegeben. Sie wusste, dass Samuel einige ihrer Gespräche aufzeichnete, um sie eventuell für sein seit Jahren geplantes Buch zu verwenden. Sein Verleger aber antwortete auf mehrere Anfragen gar nicht mehr. Was Sandra nicht wusste, dass Samuel einen heftigen Streit einen Tag vor seinem Tod aufgezeichnet hat. Diese Tonaufnahme wurde vor Gericht vorgespielt und zeigte die Zerrüttung der Ehe. Nur ist es so, dass Sandras bisherige Bücher von realen Ereignissen in ihrem Leben inspiriert sind und Samuel Ähnliches versuchte. Es kommen Zweifel auf, ob die Auseinandersetzung „real“ war oder ob er sie eskalieren ließ, um Stoff für seinen Roman zu haben.

In ihrem mit der Goldenen Palme ausgezeichneten Werk streut Triet weitere Zweifel an dem, was Fakt ist. „Je mehr man erfährt, desto weniger weiß man“, erklärt die Regisseurin, die Lage ist so komplex, dass sie immer nebulöser wird. Denn öffentliche Aussagen vor den Medien sind z.B. gefiltert und zweckgerichtet. Es wird im Prozess auch viel über Literatur diskutiert und dass diese zwar Fiktion ist, aber durchaus eine transzendierte Form von Wahrheit darstellen kann. Da ist dann noch der kleine Daniel, der beim Prozess anwesend sein darf und der seine Aussagen nach den gewonnenen Erkenntnissen variiert. Der Junge ist nachträglich fähig, Ereignisse in größeren Zusammenhängen zu bewerten. Neben den hervorragenden Leistungen des gesamtes Ensembles ist Milo Machido Graner eine Offenbarung, der für seine jungen Jahre ein außerordentlich reife Leistung bringt. Sandra Hüller zeigt, dass bei ihr trotz bereits überragender Vorstellungen immer noch ein Quäntchen mehr geht. Allein für die schauspielerischen Fähigkeiten der Darsteller und Darstellerinnen lohnt sich Anatomie eines Falls, dessen zweieinhalb Stunden Länge gar nicht auffallen, weil er so spannend ist.

Mehr als um die Klärung der Todesumstände führt der Film den Beweis, dass es keine absolute Wahrheit geben kann. Sie ist immer subjektiv, abhängig von der jeweiligen Verfassung des Betrachters, oft gefiltert, variiert von Person zu Person und ist immer eine subjektive Interpretation eines Ereignisses. Folglich kann es auch kein Monopol auf eine einzig gültige Wahrheit geben.



Sandra (Sandra Hüller) muss sich wegen Mordverdachts vor Gericht verantworten und berät sich mit ihrem Anwalt Vincent (Swann Alaud) | © Les Films Pelleas und Les Films De Pierre

Helga Fitzner - 31. Oktober 2023
ID 14457
Weitere Infos siehe auch: https://anatomieeinesfalls.de/


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