Game
never
over?
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Bewertung:
Der Regisseur und Drehbuchautor Christopher Nolan ist für seinen eigenwilligen Stil bekannt, vor allem traut er sich, zu überraschen und anders zu sein. Mit Dark Knight, Inception, Interstellar und anderen Filmen schrieb er längst Kinogeschichte, und er bleibt mit Dunkirk seiner Linie treu. Dünkirchen ist eine französische Stadt am Ärmelkanal, in der 1940 über 400.000 britische und alliierte Soldaten von der deutschen Armee eingekesselt worden waren. Die meisten Regisseure hätten einen Kriegsfilm aus dem Sujet gemacht, doch Nolan kreiert das Genre des Überlebens-Thrillers. Ein klein wenig kommt man sich vor wie in einem Videospiel, in dem man sich von Level zu Level kämpft, nur das es kein „Game over“ gibt, der Krieg geht unaufhörlich weiter.
Der junge Soldat Tommy (Fionn Whitehead in seinem Leinwand-Debüt) ist der Protagonist, der sich anfangs unter Feindbeschuss an den Strand von Dünkirchen durchschlagen muss. Dort sieht er zu seinem Entsetzen Hunderttausende von Soldaten, die alle nach England wollen. Am liebsten lebend. Tommy müsste wahrscheinlich Tage lang warten, bis er an der Reihe wäre, mit den Panzern des Feindes im Rücken, die jeden Augenblick angreifen könnten. Er sieht, wie ein Kamerad, Gibson (Aneurin Barnard), einen Soldaten begräbt, nicht ohne sich dessen Schuhe und Wasserflasche anzueignen. Die beiden nehmen sich eines Verwundeten an und schleppen ihn auf der Bahre auf das nächste Schiff. Ihre Hoffnung, dass sie selbst an Bord bleiben dürfen, erfüllt sich nicht. Also klettern sie unter den Steg, um sich nicht wieder hinten anstellen zu müssen. Das Schiff wird von feindlichen Flugzeugen angegriffen, und die beiden gelangen als vermeintliche Überlebende dieses Schiffs auf das nächste. Kaum sind sie auf See, mit einem Marmeladenbrot und einem Becher Tee in der Hand, wird der Kreuzer torpediert und sinkt. Und so geht das unaufhörlich weiter.
400.000 Soldaten stehen am Strand von Dünkirchen wie auf dem Präsentierteller, und der Abtransport ist eine logistische Herausforderung. Dann geschieht ein Wunder und eines der großen Rätsel der Weltgeschichte. Die feindlichen Panzer bekommen einen Haltebefehl und rücken nicht weiter vor. Der Feind hätte hier den größten Teil des britischen Berufsheeres vernichten können, und die Briten hätten im Anschluss keine Armee mehr gehabt, mit der sie die Invasion ihrer Insel hätten verhindern können. Commander Bolton (Kenneth Branagh) hat keine Zeit, sich darüber zu wundern. Fieberhaft organisiert er die Evakuierung seiner Männer. Das rettende Ufer ist nur 41 Kilometer entfernt und bei gutem Wetter sogar zu sehen.
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Commander Bolton (Kenneth Branagh) steht vor einer nahezu unlösbaren Aufgabe. Er muss 400.000 Mann unter Feindbeschuss über den Ärmelkanal transportieren | (C) Warner Bros. Pictures Germany
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Die Kampfflieger des Feindes sind um so aktiver, und die britischen Jagdflieger haben mit ihren Spitfire-Maschinen eine schwierige Aufgabe. Für jeden Feindflieger, den sie abschießen, erscheinen neue am Himmel. Farrier (Tom Hardy), Pilot bei der Royal Airforce, und die anderen Piloten der RAF leisten Herausragendes, aber der Kampf nimmt kein Ende.
Unterdessen schippert Mr. Dawson (Mark Rylance) mit seinem Boot in Richtung Frankreich. Er fischt einen Soldaten (Cillian Murphy) aus dem Wasser, der eine Kriegsneurose hat, zittert und manchmal Gewaltausbrüche hat. Mr. Dawsons Kutter steht für die vielen kleinen Boote, die sich trotz der Gefahren durch Luft- und Torpedoangriffe nach Frankreich aufmachen. Mr. Dawson erklärt, dass er zu der Generation gehöre, die die jungen Männer in den Krieg geschickt hat. Jetzt hält er es für seine Pflicht zu helfen, wo er kann.
Der Film besteht aus drei parallelen Handlungen: zu Land, zu Wasser und in der Luft. Sie spielen sich auf drei verschiedenen Zeitebenen ab, der Abtransport von Land aus dauert eine Woche, die Bootsfahrt einen Tag und der Flug der Spitfire nur eine Stunde, weil der Sprit nicht länger reicht. So wird die Dramatik dreifach verstärkt, der Zuschauer bekommt, ganz ohne 3D-Technik – das Gefühl, sich mitten im Geschehen zu befinden. Wie alle trotzte auch Nolans Kameramann Hoyte van Hoytema (James Bond 007: Spectre, 2015) den Elementen, agierte zu Lande, zu Wasser, in der Luft und benutzte das IMAX Format sowie 65-mm-Film. Van Hoytema und Cutter Lee Smith haben schon häufiger mit Nolan zusammengearbeitet. Das gilt auch für Hans Zimmer, der wieder einen grandiosen Soundtrack komponiert hat.
Nolan hält den Fokus auf das Wesentliche. Die Figuren haben keine Vorgeschichte, und ob sie eine Zukunft haben, ist so und so offen. Der Tod und das Sterben sind allgegenwärtig. Einzig Mr. Dawson darf gelegentlich ein wenig philosophieren, aber auch das nur sehr reduziert. Sein Darsteller Mark Rylance (Oscar für Bridge of Spies, 2016) ist für sein minimalistisches Spiel bekannt. Der einzige, der Gefühle zeigen darf, ist Kenneth Branagh, seine Hauptaufgabe in dem Film ist die kühle Analyse der Lage und der entsetzte Blick gen Himmel, in dem sich der ankommende nächste Angriff spiegelt. Als die Boote aus England ankommen, füllen sich seine Augen auch mit Wasser. Aber mehr Gefühl erlaubt Nolan nicht. Er erreicht Spannung durch Dynamik, und es ist faszinierend, dass dabei kaum ein Tropfen Blut fließt. Der Schrecken entsteht auch ohne zerfetzte Leichenteile, heraushängende Eingeweide und grausige Verstümmelungen. Es gibt keinen Showdown mit Pyrotechnik und überbordenden Special Effects. Alles sollte so authentisch wie möglich wirken, und so war der Drehort auch das echte Dünkirchen.
Die Schlacht wird durch diese Verallgemeinerungen unspezifischer und damit allgemeingültiger. Die Nazis werden nur der Feind genannt, der Überlebenskampf ist immer und überall gleich und wird dadurch universeller. Am Schluss wird die Propaganda und der vermeintliche Heroismus entlarvt. Tommy liest aus der Zeitung die berühmte Rede „Wir werden auf den Stränden kämpfen“ von Churchill vor, in der das militärische, politische und menschliche Desaster von Dünkirchen als Sieg und heroischer Akt gefeiert wird. Das steht in diametralem Gegensatz zu dem, was da geschah. Ironie der Geschichte: Der Haltebefehl, der die Evakuierung des Strands erst möglich machte, geht auf Hitler zurück.
Für Kenneth Branagh stehen vor allem die Menschen und ihre Leistung im Vordergrund: „Natürlich kann man die Evakuierung als unheroisch ansehen, doch die menschliche Geisteskraft hat durchaus etwas Bewundernswertes und Heroisches an sich.“ Im Englischen erinnert die Redewendung „the Dunkirk spirit“ „der Geist von Dünkirchen“ noch daran, dass die Briten sich nicht von der Aussichtslosigkeit ihrer Lage entmutigen ließen. So konnten 338.226 alliierte Soldaten nach England gelangen, Zehntausende, die meisten davon Franzosen, gerieten in deutsche Kriegsgefangenschaft, viele starben bei den Angriffen. Der Film überzeugt darin, dass Krieg der reine Horror und Heldentum eine höchst fragliche Angelegenheit ist, aber er zeugt gleichzeitig von der Macht des menschlichen Potenzials.
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Helga Fitzner - 26. Juli 2017 ID 10160
Infos unter https://de.wikipedia.org/wiki/Dunkirk_(2017)
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