EUROPÄISCHES JUDENTUM IM FILM
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Kein Paradies
ohne Hölle
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Bewertung:
Oft heißt es: DIE SS-Offiziere, DIE Kollaborateure und DIE Widerstandskämpfer. Dabei entsteht mitunter ein schablonenhaftes und einseitiges Bild mit sehr groben Verallgemeinerungen. Der russische Altmeister Andrei Konchalowsky (1937 in Moskau geboren) schaut in seinem Film Paradies sehr genau hin, für den er und Elena Kiseleva das Drehbuch verfassten, und so entsteht ein sehr differenziertes Bild.
Der Schwarz-Weiß-Film spielt im Jahr 1942 und beginnt in Frankreich. Jules (Philippe Duquesne) wird befragt und antwortet in die Kamera: das Filmmaterial macht einen alten und verschlissenen Eindruck mit Kratzern, Streifen und anderen Schäden. Der Zuschauer erfährt bis zum Schluss nicht, wem Jules und später Helmut und Olga da Rede und Antwort stehen. Jules ist ein höherer Beamter bei der französischen Polizei. Im Jahr 1942 ist ein großer Teil Frankreichs von den Nationalsozialisten besetzt, und er hat sich mit ihnen arrangiert. Er führt Verhöre, lässt foltern, schickt Juden und Regimegegner ins Konzentrationslager und hat damit keine Probleme, denn er erfüllt ja nur seine Pflicht. Sein Vater starb, als er 10 Jahre alt war, und sein acht Jahre älterer Bruder hat ihm immer Angst eingejagt. Die Liebhaber seiner Mutter waren nett zu ihm. Einer davon hat ihm Arbeit in der Polizeipräfektur besorgt, die zwar sehr langweilig war, aber er tat seine Pflicht. Jules' Sohn Emile war ein kränkelndes Kind und ist auch jetzt mit 10 Jahren nicht sehr robust. Jules liebt ihn trotzdem über alles, Emile darf quengeln und über das Essen meckern, ohne dass der Vater streng wird. Der führt mit seiner Frau eine recht harmonische Ehe. Aber er ist auch nur ein Mann, und als eines Tages eine russische Gräfin verhaftet wird, die zwei jüdische Kinder versteckt hatte, macht die ihm ein unmoralisches Angebot. Allerdings kommt es nicht mehr dazu, und die Gräfin Olga (Julia Vysotskaya) kommt in ein großes Konzentrationslager.
Der Zweite, dessen Lebensgeschichte wir erfahren, ist der junge deutsche Adelige Helmut (Christian Clauß). Er ist in der Zeit zwischen den Kriegen aufgewachsen und litt unter der Schmach des Versailler Vertrages. Als Adeliger fühlt er sich für sein Land verantwortlich und hat in seiner Ahnenreihe Männer, die sich um ihr Vaterland verdient gemacht haben. In Hitler sieht er eine Führerfigur, die ihn auf einer Welle des Glücks aus diesem Abgrund emporgetragen habe. Er glaubt felsenfest an ein deutsches Paradies auf Erden und tut das Seine, um dazu beizutragen. Helmut hatte auch einmal beim Reichsführer SS Heinrich Himmler vorsprechen dürfen, mittendrin musste er aber das Badezimmer aufsuchen. Ihm war übel geworden, weil er das seltsame Gefühl hatte, dass sich ein unsichtbares Wesen im Raum befände, das einem das Herz gefrieren ließ. Doch der deutsche SS-Offizier reißt sich zusammen und nimmt einen Auftrag an, in Konzentrationslagern vorkommende Fälle von Korruption zu untersuchen. Seine Reise führt ihn in dasselbe KZ, in das Olga eingeliefert wurde und in dem der Lagerkommandant Krause (Peter Kurth) ein strenges Regime führt.
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Gräfin Olga (Julia Vysotskaya) ist im Konzentrationslager gelandet. Im Hintergrund Lagerkommandant Krause (Peter Kurth) | (C) Alpenrepublik / Sveta Malikova
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Auch Olga stellt sich der Befragung vor der Kamera, von der wir nicht wissen, wer sie durchführt. Im Gegensatz zu Jules und Helmut ist sie nicht im Reinen mit sich selbst. Sie hatte eine solche Angst vor Schmerzen, dass sie sich lieber mit dem Polizeipräfekten Jules eingelassen hätte, anstatt Folter zu ertragen. Als ihr im Lager eines Tages die Schuhe gestohlen werden, kämpft sie mit anderen Frauen um das paar Schuhe einer gerade gestorbenen Insassin. Doch der Überlebenskampf lässt sie nicht unmenschlich werden. Als sie die beiden jüdischen Jungen, wegen denen sie im Lager ist, genau dort wieder sieht, ist sie entsetzt und traurig. Schließlich hat sie genau das verhindern wollen. Aber sie nimmt die beiden zu sich in die Baracke und kümmert sich um sie, da die beiden allein sind. Im Lager hat sie Glück, denn dort trifft sie Helmut wieder. In den Jahren vor dem Krieg hatten sich die beiden Adeligen in der Toscana kennengelernt. Helmut schrieb ihr regelmäßig Liebesbriefe, obwohl er nie ein Antwort bekam. Er stellt Olga als „Haushälterin“ ein, die sich wundert: Sobald man zu essen und Schlaf hat, verwandelt man sich innerhalb von ein paar Tagen wieder in einen Menschen zurück. Helmut behandelt sie mit Anstand, doch Olga kann seine Meinung über die Juden nicht teilen. Helmut hält Juden für Parasiten und verteidigt deren Vernichtung, weil sie der Errichtung des deutschen Paradieses im Wege stünden. Olga fragt sich verzweifelt, wer ihm das angetan habe, so zu denken.
Helmuts Beziehung zum Lagerkommandanten Krause wird zunehmend angespannter. Der ist stolz darauf, dass er sein Soll von 10.0000 Tötungen am Tag erfüllt, nur komme man mit der Verbrennung nicht nach. Krause weiß, dass das Lager ein Selbstbedienungsladen für viele ist, doch er verteidigt das. Das sei belanglos im Verhältnis zu dem, was die Deutschen in den Lagern leisten: „Es gibt kein Paradies ohne Hölle. Und diese Hölle habe ich geschaffen.“ Am Ende glaubt Helmut immer noch an die paradiesische Idee, obwohl er erkennt, dass die Deutschen Verbrechen begehen. Er ist stolz darauf und hält es für ein Opfer, dass man dafür bringen müsse. Aus seiner Generation würden die ersten Übermenschen hervorgehen, und jetzt werde der Grundstein dafür gelegt.
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Andrei Konchalowsky zeigt einen Kollaborateur mit menschlichen Zügen. Jules ist kein Ungeheuer, aber ihm mangelt es an Gewissen und Eigenverantwortung. Er ist egoistisch und will an seiner beruflichen Position und Bequemlichkeit festhalten. - Helmut ist der Verführung durch die Propaganda völlig erlegen und glaubt an die Überlegenheit einer menschlichen Rasse gegenüber anderen. Er hat einen Hang zum Fanatismus.
Und Olga? Die zerfleischt sich selbst. Sie verliert kein Wort über ihr eigenes Schicksal, denn als Adelige musste sie Russland nach der Oktoberrevolution verlassen. Sie hält sich auch nicht für eine Heldin, weil sie für den Widerstand gearbeitet hat. „Das Böse geschieht von allein, das Gute braucht immer einen Schubs“, meint sie lakonisch. Sie verurteilt sich dafür, was sie alles gemacht hat, um im Lager zu überleben. Dabei hat sie niemandem geschadet. Sie folgt ansonsten ihrem Gewissen, ist immun gegen Propaganda und ist allen widrigen Umständen zum Trotz Mensch geblieben.
Die Auflösung des Films geschieht erst zum Schluss, der schaurig und schön zugleich ist, und überraschend. Paradies hat durchweg hervorragende SchauspielerInnen und ist ein handwerkliches und künstlerisches Meisterwerk, das aus einer Perspektive der Menschlichkeit und ohne Vorverurteilung geschildert wird. Andrei Konchalowsky hat das Sujet mit Ehrlichkeit, Empathie und Altersweisheit umgesetzt. Der Film ist eine Reflexion über die Gründe, wie das Dritte Reich und die Gräuel geschehen konnten, und sensibilisiert den Zuschauer für die Fallstricke von Propaganda und menschenfeindlichen Ideologien. Er hat mehrere Auszeichnungen gewonnen und ist aktuell für eine Nominierung zum Oscar als bester ausländischer Film vorgeschlagen.
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Helga Fitzner - 27. Juli 2017 ID 10162
Weitere Infos siehe auch: http://www.paradies-derfilm.de/
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