Frankokanadisches Regiewunderkind
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Die Schrecken der Provinz schildert Xavier Dolans Sag nicht, wer Du bist!
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Bewertung:
Seinen vierten Spielfilm Mommy hatte der erst 25jährige Frankokanadier Xavier Dolan bereits im Mai in Cannes vorgestellt, wo das Jugenddrama den Regiepreis erhielt (ey aequo mit dem neuen Werk des Altmeisters Jean-Luc Godards). Nur kurz vor dessen Deutschlandstart kommt mit Sag nicht, wer Du bist! Dolans zuvor gedrehter Film nun in einige deutsche Kinos, in dem das Regiewunderkind auch in der selbst geschriebenen Hauptrolle glänzen darf. Ähnlich wie Mommy ist auch Sag nicht, wer Du bist! (im Original: Tom auf der Farm) ein von untergründiger Aggression vibrierendes Werk, bei dessen Sichtung sich ein ungutes Gefühl der Anspannung und Beklommenheit einstellt. Doch auch wenn das Zuschauen alles andere als einen Genuss verspricht: Gemessen an der Qualität der Irritationen und Anregungen, die das Drama auslöst und noch lange im Gedächtnis hin und her bewegt, ist der Film hochgradig empfehlenswert. Sag nicht, wer Du bist! ist wie ein teils scharfkonturiertes, teils aber auch unscharf gemaltes Bild, wobei sich die hintergründige Schreckensvision immer wieder einmal ganz nach vorne schiebt, wenn der Betrachter sich auf die Bildebenen (= Dramaturgie) und die abgebildeten Figuren (= Identifikation) einlässt.
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Das ist Xavier Dolan in seinem Film Sag nicht, wer Du bist! | (C) Kool Filmverleih
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Die Identifikation fällt nicht immer leicht, denn der von Xavier Dolan – glaubwürdig und nachvollziehbar – gespielte junge Schwule begibt sich unwissend in die Höhle des Löwen, bleibt dort aber auch dann noch, als längst klar ist, dass Leib und sogar Leben gefährdet sind. Konkret: Der Großstädter Tom hat seinen Liebhaber bei einem Unfall verloren und fährt zur Beerdigung in dessen Heimatkaff, das in der tiefsten kanadischen Provinz liegt. Dort ist nichts außer Farmland, Höfen und Kneipen – und die Ignoranz und Intoleranz. Ersteres wird von der Mutter des Verstorbenen verkörpert, Letzteres von dessen älterem Bruder, der im Gegensatz zu dem Toten weiter ein hartes Leben als Landwirt fristet. Während die Mutter des verstorbenen Freundes (verschroben: Lise Roy) aufgrund der Trauer etwas verwirrt wirkt, macht der rüpelhafte, offen aggressive Francis dem angereisten Tom vom ersten Moment an klar, wie skrupellos er ist. Er überfällt Tom ohne Vorwarnung nachts in dessen Quartier und bläut ihm unmissverständlich ein, während seines Aufenthaltes nur ja kein Wort über die homosexuelle Beziehung zu verlieren, sondern der gramen Mutter gegenüber zu behaupten, er sei nur ein guter Freund des Toten gewesen.
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Das ist Pierre-Yves Cardinal im Film Sag nicht, wer Du bist! | (C) Kool Filmverleih
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Tom hält sich wiederwillig daran und spielt das Spiel zähneknirschend, aber auch mit Ironie mit, wofür er von Francis eine Tracht Prügel erhält. Tom übersteht die Beerdigung und erkennt zu diesem Zeitpunkt noch instinktiv, dass er schleunigst das Weite suchen sollte. Jedoch: Er will auch nicht als feiger Schisser gelten und kehrt auf die Farm zurück. Fortan erlebt Tom voller Stolz, dass sich auch ein Großstadtbohemien wie er in der rauen Welt des Landlebens bewähren kann; und sogar an die fortgesetzte Prügel von Francis, die den üblichen Rahmen der rauen Sitten deutlich überschreitet, scheint sich Tom zu gewöhnen. Tom schafft es nicht, sich von dem Sog des Bösen zu lösen – was eigentlich komplett unglaubwürdig wirken müsste. Dass dies (zumindest zu einem großen Teil) nicht der Fall ist, liegt nicht nur an den großartigen schauspielerischen Leistungen von Dolan und seines Widerparts Pierre-Yves Cardinal, sondern auch an der dramaturgischen Balance, die meisterhaft eine Atmosphäre des Zwiespältigen, Grauschattierten konstruiert.
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Das sind Pierre-Yves Cardinal (re.) und Xavier Dolan in dem Film Sag nicht, wer Du bist! | (C) Kool Filmverleih
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Denn während Tom sich von der männlichen, ja, animalischen Seite Francis' nicht nur abgestoßen, sondern teils auch angezogen fühlt, ist auch der keineswegs nur der stumpfsinnige Prolet, der aus mangelndem Intellekt um sich schlägt. Wenn er auf teils groteske Weise versucht, Gefühle auszudrücken (beim Tangotanzen mit Tom in einer Scheune), wird deutlich, dass er ein Minderwertigkeitsgefühl verbergen muss und seine Homophobie von Selbsthass (und Hass auf die Mutter) gespeist wird. Seinem Vorbild Fassbinder ist Dolan mit diesem düster-bedrohlichen Drama ein gutes Stück näher gekommen. Denn selten hat man seit Fassbinders Zeiten die kleingeistigen, psychopathologischen Abgründe innerhalb einer Gesellschaft gegenüber Andersdenkenden und –fühlenden so überzeugend seziert bekommen wie in Sag nicht, wer Du bist!.
Leider ähnelt Dolans Inszenierungsstil der von Fassbinder auch in der Hinsicht, dass die Mischung aus Schärfe-Unschärfe, d.h. zwischen subtilen und aufdringlichen Momenten, streckenweise unausgeglichen wirkt. Das ist das einzige, wirkliche Manko innerhalb einer Story, die viel über die Widersprüchlichkeit der menschlichen Natur aussagt, zu der Xavier Dolan offenkundig besseren Zugang findet als die meisten seiner Kollegen und Kolleginnen.
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Max-Peter Heyne - 20. August 2014 ID 8027
Post an Max-Peter Heyne
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