Filme, Kino & TV
Kunst, Fotografie & Neue Medien
Literatur
Musik
Theater
 
Redaktion, Impressum, Kontakt
Spenden, Spendenaufruf
Mediadaten, Werbung
 
Kulturtermine
 

Bitte spenden Sie!

KULTURA-EXTRA durchsuchen...

EUROPÄISCHES JUDENTUM IM FILM

„Überdosis

Vergangenheit“



Bewertung:    



„Das sind meine Eltern, meine Dibbuks“, erklärt Adriana Altaras, „Dibbuks sind die Geister der Toten, die den Lebenden keine Ruhe lassen und ihnen in der Nacht den Schlaf rauben.“ Die Filmdokumentation handelt von Adriana Altaras, die 1960 als Kind jüdischer Eltern in Zagreb geboren wurde. Die Eltern zogen in den 1960er Jahren nach Deutschland und machten dort Karriere. Adriana wuchs bei ihrer Tante in Italien auf und später in einem Internat in Deutschland. Heute lebt sie in Berlin und arbeitet als Schauspielerin und Regisseurin. Ihren Vater hat sie immer sehr bewundert, weil er ein Partisanenheld war und mit Tito gegen die Faschisten gekämpft hat. Er war als Arzt eine Koryphäe. Ihre Mutter Thea war Architektin und als Autorin von Forschungsarbeiten über das Landjudentum anerkannt. „Meine Mutter hat mich nie umarmt... Sie war wie versteinert“, schildert Altaras, „sie hat nichts mehr fühlen können, nichts erzählt.“ Die heute extrovertierte und temperamentvolle Adriana Altaras war als Kind sehr brav und angepasst und hat oft geweint, wie sie gesteht.



Kindheitsfoto von Adriana Altaras mit ihren Eltern Jakob und Thea Altaras © x-verleih


Altaras sieht das Schicksal ihrer Eltern als ihr Erbe an. Ihre Astrologin erklärt ihr zwar, dass man ein Erbe nicht annehmen müsse, aber die resolute Partisanentochter macht sich auf den Weg in die Vergangenheit ihrer Eltern, auf eine „Reise der Befreiung“, die sie u. a. nach Italien, Slowenien und mehrere Orte in Kroatien führt. „Für Distanz würde ich alles tun“, sagt sie. „Ich fange vor meinem Ableben mit dem Aufräumen an. Vielleicht werde ich so die Dibbuks los. Sonst müssen sich meine Söhne damit herumschlagen.“ Diese Aussage machte hellhörig, und in einem Interview danach befragt, ob sie dabei das Phänomen der transgenerationalen Weitergabe von Traumatisierungen meinte, bejahten sowohl Adriana Altaras als auch Regina Schilling (Regie und Drehbuch) die Frage. Auch wenn das nicht vordergründig mit der Dokumentation zu tun hat, erklären wir für alle Fälle kurz, was es damit auf sich hat. Es handelt sich dabei um die unbewusste und unbeabsichtigte Weitergabe von Traumatisierungen an die Kinder. Dieser Mechanismus setzt ein, wenn die eigene Traumatisierung nicht erkannt und bearbeitet werden konnte. Im Fall von Kriegen kann dies eine ganze Generation betreffen, und seit dem Dreißigjährigen Krieg 1618 bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 hat in Mitteleuropa jede Generation einen Krieg erlebt. Die Weitergabe wird als Introjekte bezeichnet, die der Psychoanalytiker Hermann Behland „ungebetene Gäste“ nennt, die psychische Störungen verursachen können. Sie werden oft nicht erkannt, weil die Traumatisierung nicht selbst erlebt, sondern unbewusst übernommen wurde. Das Schweigen der Eltern- und Großelterngeneration ist einerseits symptomatisch für eine Traumatisierung, behindert gleichzeitig aber auch die Aufarbeitung. Altaras und Schilling haben sich den Dibbuks aber gestellt. Sie sind seit über 20 Jahren miteinander befreundet und haben auch gemeinsam den Vorläufer zum Film, das Buch Titos Brille [so auch der Filmtitel], auf den Weg gebracht.



Die Regisseurin Regina Schilling ist seit über 20 Jahren mit Adriana Altaras befreundet © Uli Grohs


Ein besonderer Glücksfall sind die Super-8-Filme, die Jakob Altaras mit Leidenschaft gedreht hat. Eines seiner Lieblingsmotive war Töchterchen Adriana, die gekonnt vor der Kamera posiert. Sie hatte schon als Kleinkind ein unglaubliches Schauspieltalent. In dem jugoslawischen Spielfilm Es geschah in Bosniens Bergen (1964 von Branko Bauer) spielt sie herzerweichend ein kleines jüdisches Mädchen, das als einzige in ihrer Familie die Übergriffe der Faschisten überlebt hat. Die Schrecken des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust verfolgen Altaras und Schilling auf ihrer ganzen Reise. An die Legende von Titos Brille hatte Altaras schon länger gezweifelt. Ihr Vater soll sich als Titos Leibarzt um dessen Brille gekümmert haben. Nur: Tito trug in jüngeren Jahren gar keine Brille. Die Verehrung Titos, der vielen Juden, darunter auch Adrianas Eltern, das Leben gerettet hat, hat ein gewisses Eigenleben in dem Film. Den Eltern war es wichtig sich zu wehren, sie wollten keine Opfer sein. Letztendlich überlebten sie und gehörten zu den Siegern über den Faschismus.

Adriana Altaras versucht sich in ihren Heldenvater hineinzuversetzen. Vermutlich weil sie Schauspielerin ist, zieht sie dabei auch seine alte Partisanenuniform an, posiert darin und streichelt die Orden. Auch in Titos Sommerresidenz Bled in Slowenien lässt sie sich auf den Heldenmythos um Tito ein.



Adriana Altaras in Partisanenpose beim Besuch von Titos Sommerresidenz der Villa Bled in Slowenien © x-verleih


Es erklingt öfter das Partisanenloblied „Bella Ciao“, und schmissige Rebellionsklänge übertünchen dann doch ein wenig den Ernst des Themas. Zwar muss man der Dokumentation ihre subjektive Darstellung erlauben, und Altaras erwähnt auch kurz, dass sie wisse, dass Tito ein Diktator war. Es hat unter Tito Konzentrationslager für politische Widersacher gegeben, Massaker und andere Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Auch wenn man Altaras und Schilling auf keinen Fall eine böse Absicht unterstellen kann, hätte hier – filmimmanent – eine noch klarere Distanzierung von Titos Kriegsverbrechen erfolgen können, und wenn es im Abspann gewesen wäre.

Insgesamt ist den beiden couragierten Frauen eine interessante und stellenweise sehr berührende Dokumentation gelungen. Wenn Altaras im Konzentrationslager Rab sitzt, in dem einige ihrer Familienmitglieder ums Leben kamen, geht das ganz schön unter die Haut. „Es ist kein leichtes Erbe, aber ich habe keine Wahl“, konstatiert sie am Ende. Ob die Reise eine Befreiung von der „Überdosis Vergangenheit“ war, an der Altaras litt, bleibt offen. Zurück in Deutschland feiert der jüngere Sohn Bar Mitzwa (ähnlich wie im Protestantismus bei der Konfirmation wird der jüdische Jugendliche an diesem Tag religionsmündig). Altaras muss feststellen, dass die Dibbuks immer noch da sind und bei der Bar Mitzwa mittanzen: „Das lassen sie sich doch nicht entgehen.“


Helga Fitzner - 10. Dezember 2014
ID 8312
Weitere Infos siehe auch: http://www.titosbrille.x-verleih.de/


Post an Helga Fitzner

Interview mit Adriana Altaras und Regina Schilling

EUROPÄISCHES JUDENTUM IM FILM



 

FILM Inhalt:

Rothschilds Kolumnen

BERLINALE

DOKUMENTARFILME

DVD

EUROPÄISCHES JUDENTUM IM FILM
Reihe von Helga Fitzner

FERNSEHFILME

HEIMKINO

INTERVIEWS

NEUES DEUTSCHES KINO

SPIELFILME

TATORT IM ERSTEN
Gesehen von Bobby King

UNSERE NEUE GESCHICHTE


Bewertungsmaßstäbe:


= nicht zu toppen


= schon gut


= geht so


= na ja


= katastrophal

 


Home     Datenschutz     Impressum     FILM     KUNST     LITERATUR     MUSIK     THEATER     Archiv     Termine

Rechtshinweis
Für alle von dieser Homepage auf andere Internetseiten gesetzten Links gilt, dass wir keinerlei Einfluss auf deren Gestaltung und Inhalte haben!!

© 1999-2024 KULTURA-EXTRA (Alle Beiträge unterliegen dem Copyright der jeweiligen Autoren, Künstler und Institutionen. Widerrechtliche Weiterverbreitung ist strafbar!)