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Feuilleton

Hangar Bicocca, viale Sarca 336, Mailand.

Anselm Kiefer. „I sette palazzi celesti“ - Mailand

Bis 12. Februar 2005, 12.00 – 19.00 von Dienstag bis Samstag.

Himmelstürme

Sieben Türme ragen in den Himmel Mailands, eingefangen in einem riesigen Hangar am Nordende der Stadt. Sieben Türme sind die Antwort Anselm Kiefers auf die Einladung, einen neu erschaffenen Raum – den „Hangar Bicocca“ - durch ein bezeichnendes Ereignis dem Publikum vorzustellen.
Seine Vergangenheit als Industriegebäude verleugnet die 13.000 qm große Halle auch nach ihrer Restaurierung nicht. Außen in glänzendes Metall gekleidet, ist im Inneren ihre ursprüngliche Struktur – die massiven Verstrebungen und Balken – weiterhin sichtbar. Jedoch verleiht die tief blaue Farbe dem Hangar den Anschein einer immensen Kathedrale in dunkelster Nacht. Und in ihrem Hauptschiff stehen nun die sieben Türme, durch gleißendes Licht aus der Finsternis herausgemeißelt. Ihre Mächtigkeit ist beeindruckend. 13 bis 16 Meter hoch ragen sie himmelwärts, wuchtig und doch fragil. Denn ihr Gleichgewicht ist prekär.
Aufgebaut sind sie nach Kartenhausprinzip. Vorgefertigte Betonteile in L-Form sind aneinander gereiht und übereinander gestellt. Türgroße Öffnungen sind überall herausgeschnitten und die Zwischenböden sind in der Mitte durchbrochen. Kein Fundament verankert sie am Boden. Sehr wackelig schauen diese Türme aus. Würde man es wagen, sich ihnen zu nähern? (Die weit entfernt angebrachte Absperrung enthebt den Besucher dieser Entscheidung.) Um sie ins Lot zu bringen sind überall zwischen den einzelnen Stockwerken Keile und Bleibücher eingeschoben. Diese Elemente jedoch scheinen die Struktur eher noch mehr zu destabilisieren. Vielleicht liegt es auch bereits an den Betonteilen selbst. Das hervorstechendes Rippenmuster verrät ihre Herkunft. Als Abbild von alten, verbrauchten Containern sind sie verbeult, schief und zusätzlich teilweise zerfressen und verbrannt. Warencontainer im Standardmaß 2,5 x 2,5m, für Kiefer ein Symbol der allumfassenden Globalisierung.

Wird somit nun einerseits die aktuelle Situation der Menschheit aufgezeigt, der Hybris eines entfesselten fortschrittszentrierten Rationalismus verfallen, weisen die sieben Türme andererseits auch weit darüber hinaus und stellen einen kosmischen Bezug her.
Der Mythos, der in diesem Werk eingearbeitet ist, ist der hebräischen Mystik verpflichtet. Am ersten Turm erscheinen die Namen der 10 Sefiroth, die in der Kabbala auf das Emportauchen des verborgenen Gottes aus der Tiefe seiner Selbst und seine Offenbarung durch die Emanation der Sefiroth hinweisen.

Und mehr noch. „Die sieben Himmelspaläste“ - Titel der Ausstellung und auch der Name des letzten Turmes - sind jenes himmlische Paradies, das der Suchende als Zwischenstation auf seinem Weg zur höchsten göttlichen Vision erreicht. Die sieben Himmelspaläste strahlen eine überirdische Erhabenheit aus – und doch: es ist die Erhabenheit des Untergangs, eine alles durchdringende Stimmung der Trauer, der Erinnerung, des Verfalls. Von der materiellen Welt ausgehend hat der desolate Zustand des Ruins auch die spirituelle Welt erfasst.

Einen Hinweis auf das Mysterium dieser komischen Verwüstung geben die Namen der übrigen Türme 1. „Tzim-Tzum“, „Shevirat Ha-Kelim“ und „Tiqqun“ beziehen sich auf ganz bestimmte Aspekte der kabbalistischen Kosmogonie wie sie im 16. Jahrhundert von Isaak Luria entwickelt wurde.
Laut der lurianischen Doktrin beginnt der Schöpfungsprozess nicht durch Emanation sondern durch Kontraktion (Tzim-Tzum); indem Gott sich von einem Ort zurückzieht, schafft er Raum für den Urkosmos. Im weitern Verlauf der Entstehung der Welt kommt es jedoch zu einer unsagbaren Katastrophe: Shevirat Ha-Kelim, das Zerbersten der Gefäße. Die Urformen der Sefiroth zerbersten unter der Wucht des göttlichen Lichtes und alles gerät aus dem Lot. Keine der Welten ist mehr an ihrem angestammten Ort, aus den Scherben der Gefäße bilden sich die Kelippoth, die Mächte des Bösen, sowie die grobe Materie. Herabstürzende Glasbilder, durch Staub erblindet, herumliegende „Sternschnuppen“ und Steinbrocken, verwehte Blätter erinnern in Kiefers Installation an diese Katastrophe.

Mit Tiqqun wurde die Wiederherstellung der kosmischen Ordnung eingeleitet, sie ist aber noch nicht abgeschlossen. Denn es ist dem Menschen vorbehalten, den Kosmos zu seiner ursprünglich vorgesehenen Vollkommenheit zurückzuführen indem die unterste Welt, Asiyyah, auf ihren spirituellen Rang erhoben und völlig von Welt der Kelippoth getrennt wird.

Anselm Kiefers Werk lebt von der Spannung zwischen dieser unsäglichen Hoffnung einer Globalisierung des geistigen Bewusstseins und der fragwürdigen Suche nach kosmischer Sinnhaftigkeit.


Sylvia Schiechtl, November 2004
ID 1410
Anmerkung:
1
Die Namen aller sieben Türme lauten “Sternschnuppen”, “Sternenlager”, “Die Sefiroth“, „Tzim-Tzum“, „Shevirat Ha-Kelim“, „Tiqqun“ und „Die sieben Himmelspaläste.



Anselm Kiefer
„I sette palazzi celesti“

Bis 12. Februar 2005, 12.00 – 19.00 von Dienstag bis Samstag
Hangar Bicocca, viale Sarca 336, Mailand

Tel.: +39 02/85354486.
Weitere Infos siehe auch:






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