Merzbau von Kurt Schwitters
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„Was für die Götter Griechenlands Nektar und Ambrosia, das war für Kurt Schwitters der Kleister“, sagte einmal sein Freund Hans Art. Die Ingredienzien für Kurt Schwitters‘ (1887-1948) originelle Klebe- und Materialbilder, für seine Merzkunst und Collagen, waren nicht Farben, Stifte oder Leinwand sondern benutzte Fahrkarten, Paketzettel, Briefumschläge, Knöpfe, Schrauben, Blechabfälle, Stoff und Holzreste, Nähzeug, Kalenderblätter, Flaschenetiketten, Bücher und sogar Auszüge aus einer Hitler-Rede. Verarbeitet wurden diese Zutaten auch nicht mit einem Pinsel; hier kamen Hammer, Schere, Zangen und natürlich viel Kleister zum Einsatz. Schwitters „schrie mit Müllabfällen“, die er anschließend in Holzrahmen quetschte. Merz ist ein Zufallsbegriff, wie seine Kunst auch. Das Wort „Commerz“ aus einer Anzeige der Commerz- und Privatbank war wohl zu lange für seine Collage, so durchschnitt er es nach dem ersten „m“.
Der Merzbau – oder KdeE (Kathedrale des erotischen Elends), wie er seinen rhythmischen Bau zu nennen pflegte, ist das Lebenswerk von Kurt Schwitters. Eine drei- und überdimensionale Installation, eine Work-in-progress-Collage, die durch seine Wohnung und sein Leben wucherte und sich im Verlauf vieler Jahre vom Keller bis in den oberen Stock ausbreitete. Sein Wohnraum wurde zur Raumkunst, eine Zimmerdecke musste durchgebrochen werden und ein Mieter ausziehen. In einer verwinkelten Säulen-Holzplanken-Grotte vereinen sich profane Reliquien, Familienfotos und Zitate von anderen Werken. Dieser Rückzugsort, der mit seinen Linien, scharfen Kanten, Kontrasten, langen Schatten und unmöglichen Perspektiven an eine Szene aus dem 1920 erschienenen Film von Robert Wiene, Das Cabinet des Dr. Caligari, erinnert, ist ein Märchenhaus, ein Kindertraum aus Stalaktiten, Stalagmiten und Stalagnaten. Mit Bindfäden vereinte er die Gegenstände, und jede Lücke wurde hermetisch zugegipst. Ein Kunstobjekt, das nicht von außen zu betrachten, sondern von innen zu begehen war. Irgendwann befanden sich alle Objekte in der Wohnung im Inneren dieses Gesamtkunstwerkes. Mehr Kunst in sein Leben zu holen ging nicht. 17 Jahre arbeitete Schwitters an diesem persönlichen Museum, bis er ohne sein Sanktuarium Deutschland verlassen musste. In Norwegen stürzte er sich direkt ein zweites Mal in ein Merz-Abenteuer.
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Merzbau von Kurt Schwitters | Bildquelle: Wikimedia
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Kurt Schwitters, der Sohn eines Kaufhausbesitzers aus Hannover, der mit Anzug und Krawatte eher wie ein Bankangestellter oder ein sympathischer und geselliger Inhaber einer Mittelstandsfirma daher kam, war Dadaist, Expressionist, Surrealist und Konstruktivist, Maler und Bildhauer, Dichter und Komponist, aber vor allem war er Schwitters. Das Merzgedicht I, „An Anna Blume“, machte ihn zum Vorreiter der Konkreten Poesie. Von seiner gurrenden, zischenden, zirpenden und gurgelnden Ursonate gibt es Tonaufzeichnungen.
Schwitters wurde 1917 eingezogen. Da er aber an Epilepsie litt und sich geschickt „schelmisch-schwejkisch“ anstellte, kam er in die Schreibstube und wurde als Hilfs-Maschinenzeichner eingesetzt. Einige Ideen für die späteren Merzbilder dürften hier entstanden sein.
In Berlin hingegen konnte er - auch wegen seiner Zerwürfnisse mit dem einflussreichen Mitbegründer der Dada-Bewegung Richard Huelsenbeck – nur schwerlich Fuß fassen. Hülsenbeck, der als Kriegsdienstverweigerer ab 1916 mit Hans Arp und Tristan Tzara in Zürich im Cabaret Voltaire mit humoristischen Possen und witzigem Nonsens die verlogene Moral der herrschenden Elite anprangerte, schrieb 1918 sein Dadaistisches Manifest und belächelte den Provinzkünstler aus Hannover, nannte ihn einen „abstrakten Spitzweg“. Das „Genie im Bratenrock“ revanchierte sich und schimpfte ihn „Hülsendada“. 1920 jedenfalls fehlten Schwitters Arbeiten bei der ersten Internationalen Dada-Messe in Berlin neben denen von Hannah Höch und Tristan Tzara. Zusammen mit Man Ray und Herwarth Walden arbeitete Schwitters für die Zeitschrift „Der Sturm“ und in der von der Weimarer Republik geförderten Novembergruppe, die um 1920 an die 500 Mitglieder verzeichnete, war er Mitglied bis zu deren Verbot 1935.
Ab 1929 hielt er sich immer wieder längere Zeit in Norwegen auf. 1937 flüchtete er vor der Gestapo und ließ sich definitiv in Lysaker/Oslo nieder. An den norwegischen Fjorden malte er kleine konventionelle Landschaftsbilder, die er auch an die „Kraft durch Freude“-Schiffstouristen verkaufte, während seine Merzbilder in der Ausstellung „Entartete Kunst“ verpönt wurden. Nach der Besetzung von Norwegen floh er nach England. Zurück blieben viele Kisten mit Kunstwerken. Als Deutscher musste Schwitters für eineinhalb Jahre in ein britisches Internierungslager. Kurz nach seiner Freilassung erlitt er einen Schlaganfall, von dem er sich auch dank der guten Pflege von Edith Thomas schnell erholte und weiter "merzte".
Der Merzbau in Hannover fiel einer englischen Fliegerbombe zum Opfer, die Nachbildung in Norwegen verbrannte. Das New Yorker MoMA – das viele bedeutende Werke besitzt - gab Schwitters 1948 ein Stipendium, um einen dritten Merzbau-Versuch zu starten. Kurt Schwitters verstarb allerdings während der Arbeiten. Erhalten sind nur Atelier-Fotos aus den Jahren 1932/33. Die Aufnahmen, die Schwitters in einem Flugzeug nach Norwegen schickte, verbrannten, als dieses abstürzte. Abgesehen von kleinen, vorbereitenden Merzzeichnungen und den Merzbildern ist noch der Merzbarn – entstanden in einer englischen Scheune und heute in Newcastle – erhalten. Andere Merzplastiken wie die Heilige Bekümmernis, der Lustgalgen und die Kultpumpe sind verschollen.
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Christa Blenk - 31. Januar 2021 ID 12723
Posthum konnten Werke von Kurt Schwitters bei den ersten drei documenta-Veranstaltungen (1955, 1959 und 1964) in Kassel gezeigt werden, darunter auch Schätze aus den norwegischen Kisten, die 1956 geöffnet wurden. Das Sprengel Museums in Hannover hat den Merzbau des Universalgenies, das vor allem die Fluxus-Bewegung und die Pop-Art nachhaltig beeinflusst und inspiriert hat, vor ein paar Jahren rekonstruiert. Die Nachbildung ist im Museum zu besichtigen.
„Ich weiß", schrieb Schwitters 1931, "dass ich als Faktor in der Kunstentwicklung wichtig bin und in allen Zeiten wichtig bleiben werde. Ich sage das mit aller Ausdrücklichkeit, damit man nicht nachher sagt: Der arme Mann hat ja gar nicht gewusst, wie wichtig er war.“
Wikipedia-Link zum Merzbau von Kurt Schwitters
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