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Ausstellung

Erinnerungskultur statt

Geschichtsvergessenheit



Cover zum Begleitbuch der Ausstellung Köln 68! Protest. Pop. Provokation im Kölnischen Stadtmuseum

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Wenn der Kölner in Scharen auf die Straße geht, dann schon am liebsten im Karnevalskostüm, stellt sich so mancher vor. Deshalb verwundert der Spruch von 1968 „Berlin brennt! Köln pennt!“ erst einmal wenig, doch die 1968er Aufstände haben auch in Köln stattgefunden und Spuren hinterlassen. Frankfurt am Main gilt als das geistige Zentrum der Bewegung. In Berlin versuchte man, die Forderungen durch Straßenproteste durchzusetzen. Und der Kölner an sich? Einige ärgerten sich, dass ein Alt-Nazi wie Kurt Georg Kiesinger Kanzler werden und damals noch im nahegelegenen Bonn amtieren konnte. Der Kölner Schriftsteller Heinrich Böll (1917-1985) unterstützte die nach Aufklärung strebende Jugend und war weit über die Stadtgrenzen hinaus bekannt, denn ihm war die so genannte „Stunde Null“ nach dem Zweiten Weltkrieg schon immer suspekt vorgekommen. Vor der Kapitulation waren 90 Prozent der Deutschen Nazis und über Nacht angeblich keiner mehr. Diese Vergangenheit blieb unaufgearbeitet, und die Elterngeneration schwieg eisern gegenüber den immer vehementeren Fragen der Nachgeborenen. Die jungen Menschen litten unter den hierarchisch geprägten Strukturen und der obrigkeitshörigen Mentalität in der Republik.

*

Anlässlich des 50. Jubiläums dieses einflussreichen Jahres hat das Kölnische Stadtmuseum in Zusammenarbeit mit dem Historischen Institut der Universität zu Köln die Sonderausstellung Köln 68! Protest. Pop. Provokation ins Leben gerufen. Neben dem Kurator des Museums Stefan Lewejohann zeichnen sich die Kuratorin der Universität Köln Michaela Keim und Habbo Koch vom Historischen Institut mitverantwortlich. Der Kölner Protest spielte sich vielfach in der Universität ab, die damals noch ein akademischer Elfenbeinturm im Vergleich zur heutigen Massenuniversität war. Der Aufruhr äußerte sich in einem Boykott der Uni für ein ganzes Semester, und er wurde von den Studenten durchaus an die Öffentlichkeit getragen. Ein Foto belegt, dass die Kölner Universität von linksorientierten studentischen Aktivisten mittels Schriftzug kurzerhand in „Rosa-Luxemburg-Universität“ umgetauft wurde.



Schriftzug am verbarrikadierten Hauptgebäude der Kölner Universität, Originalfoto von P. Schmidt von Schwind | Foto: Helga Fitzner


Die StudentInnen waren aber nicht die Einzigen, die umtriebig waren. Der gesellschaftliche Umbruch zeigte sich bundesweit am Aufkommen verschiedener Bewegungen: die Frauenrechtlerinnen waren auf dem Vormarsch, die Schwulenbewegung setzte ein, es wurde für Frieden, Umweltschutz und gegen die Atomkraft protestiert. Der Vietnamkrieg wurde als Stellvertreterkrieg der Ost- und Westmächte angesehen und trieb viele Menschen auf die Straße. Sie forderten mehr Mitbestimmung und Demokratie. Die Erschießung des Studenten Benno Ohnesorg 1967 hatte eine Verschärfung der Lage zur Folge, die auch zum Attentat auf den Studentenführer Rudi Dutschke führte. Die Machthabenden schränkten 1968 wesentliche Grundrechte mit der Notstands- und Abhörgesetzgebung ein, was noch mehr Menschen aufbrachte. Die Springerpresse heizte als meinungsbildendes Organ die Stimmung an und wurde von den StudentInnen ebenfalls bekämpft.

Einen wichtigen Anteil an der Ausstellung leisteten StudentInnen des Historischen Instituts. Sie haben Interviews mit 50 ZeitzeugInnen geführt, von denen man sich im Erdgeschoss einige anhören kann. So kommt die SPD-Politikerin Anke Brunn zu Wort, die zwar fast überall dabei war, aber mit Kinderwagen und im sicheren Abstand zu den Polizeipferden. Im ausführlichen Katalog von Michaela Keim und Stefan Lewejohann sind übrigens alle Gespräche und viele Zusatzinformationen abgedruckt.



Hier können die Aussagen der ZeitzeugInnen gehört werden | © Helga Fitzner


In Köln ging ganz wesentlich die Kunstszene auf die Ereignisse ein. Am Schauspielhaus inszenierte Hansgünther Heyme Klassiker in aktualisierter Form, es wirkten Musiker wie Karlheinz Stockhausen, die Kölner Band Can wurde gegründet. Auch wenn sie keine Kölner waren, erfreuten sich die Liedermacher Hannes Wader, Dieter Süverkrüp oder Franz Josef Degenhardt mit ihrer Kritik an der Polizeigewalt und Geschichtsvergessenheit großer Beliebtheit. In der Ausstellung wird der Ausnahme-Gruppe Floh de Cologne Rechnung getragen, die Musik und Kabarett miteinander verband und avantgardistische Rockmusik spielte. Die Polizei stürmte eine Vorführung des experimentellen Filmstudios X-SCREEN, was zu einer Demonstration gegen Polizeigewalt direkt vor dem Polizeipräsidium Köln Waidmarkt führte.



Eine Zeittafel wirft Schlaglichter auf die Geschehnisse um 1968 | © Helga Fitzner


Zeittafeln helfen, die Kölner Geschehnisse in einen internationalen Zusammenhang einzuordnen. Klaus der Geiger (Klaus von Wrochem) steuerte eine seiner Geigen als Exponat bei, er ist heute noch das musikalische soziale Gewissen der Stadt. Kuratorin Michaela Keim illustrierte während der Pressekonferenz die gespaltene Gesellschaft anhand der musikalischen Vorlieben. Es war die Zeit, in der Heintje mit dem Lied „Mama“ die Hitparaden stürmte, zeitgleich aber die Beatles eine neue Musikära einläuteten. Die neuen Musikrichtungen verbanden die jungen Menschen rund um den Globus. Selbst der Klerus stand dem Wandel teilweise offen gegenüber. In der Antoniterkirche auf der Schildergasse rief die evangelische Theologin und Dichterin Dorothee Sölle und viele ökumenische und andere MitstreiterInnen zum legendären politischen Nachtgebet auf, und diese zogen auch in einer Prozession gegen den Vietnamkrieg durch die Straßen.

Das Kölnische Stadtmuseum kann derzeit nur kleinere Sonderausstellungen durchführen, denn die Räumlichkeiten der Dauerausstellung zur Kölner Stadtgeschichte mussten wegen eines Wasserschadens 2017 schließen und die Ratsbeschlüsse über Sanierung bzw. Interimsquartier stehen noch aus. Angesichts des Einsturzes des Kölner Stadtarchivs 2009 und der Sanierung des Römisch-Germanisches Museums ab nächstem Jahr sind drei wichtige Aufbewahrungsorte Kölner Geschichte teilweise vernichtet oder nur eingeschränkt zugänglich, als ob dem Stadtgedächtnis die Wurzeln herausgezogen würden.

Nun haben das Kölnische Stadtmuseum und das Historische Institut sich zusammengetan mit vielen Begleitveranstaltungen, von denen einige in der Universität stattfinden. Diese Bemühungen, der Geschichtsvergessenheit entgegenzuwirken, vereinen uns mit den Menschen, die vor 50 Jahren um eine Demokratie gekämpft haben, die es auch heute noch zu verteidigen gilt.

Helga Fitzner - 23. Oktober 2018 (2)
ID 10984
Weitere Infos siehe auch: http://www.koelnisches-stadtmuseum.de/KoeLN-68-Protest-Pop-Provokation


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