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Unsere Neue Geschichte (Teil 32)

Die Macht

der Wahrheit





Bewertung:    



Manchmal ist die Entstehungsgeschichte eines Buches und das ganze Drumherum genau so spannend wie das Buch selbst, insbesondere wenn die Harry Potter-Autorin J. K. Rowling es geschrieben hat. Der Ickabog ist ein ausgewiesenes Kinderbuch für junge Menschen ab sieben Jahre. Ein mysteriöses Monster bringt angeblich das malerische Königreich Schlaraffien in Gefahr. Rowling hatte es vor etlichen Jahren für ihre eigenen Kinder geschrieben und nie veröffentlicht. Und dann kramte sie es ausgerechnet wieder hervor, als ganz andere Anforderungen an sie gestellt wurden. Im Jahr 2020 stand sie unter massiver Kritik, weil sie als transgender-feindlich angesehen wurde. Wir gehen hier nicht auf die Einzelheiten ein, aber alle ihre Erklärungsversuche versanken im Shitstorm, und Rowling besteht auf die künstlerische Freiheit bei der Gestaltung ihrer Romanfiguren und auf das Recht auf ihre eigene Meinung. Das kam in der Hitze der Debatte nicht gut an.

Derweil enttäuschte sie noch eine ganz andere Gruppe, nämlich die Fans ihrer Krimi-Reihe um den Privat-Detektiv Cormoran Strike, die sie unter dem Pseudonym Robert Galbraith schreibt. Und während die Strike-Fans schon ungeduldig nach der Veröffentlichung des fünften Bandes lechzten, überarbeitete Rowling ungerührt die Ickabog-Geschichte und verschob Strike Nr. 5 nach hinten. - Als Trostpflaster für all die Kinder, die zwischenzeitlich nicht einmal zur Schule gehen konnten, wurde The Ickabog im englischen Sprachraum von Mai bis Juni 2020 in 34 Teilen kostenlos im Internet veröffentlicht und gleichzeitig zu einem Malwettbewerb aufgerufen. Die besten Bilder sollten in der anstehenden Veröffentlichung der Geschichte in Buchform verwendet werden. Die Aktion war ein riesiger Erfolg, und es kamen so viele Bilder von jungen KünstlerInnen aus vielen Teilen der Welt zusammen, darunter Australien, Neuseeland und Indien, dass man gar nicht alle gelungenen Werke verwenden konnte. Nun stehen die Buchübersetzungen in verschiedene Sprachen an, und z. B. in Deutschland wurde ein eigener Malwettbewerb durchgeführt, und eine Auswahl der Ergebnisse ist in der deutschen Fassung des Buches zu sehen.

*

König Fred von Schlaraffien war ein schwacher König und hatte sich den Beinamen, der Furchtlose, selbst gegeben. Zudem war er sehr eitel, extrem auf prachtvolle Gewänder bedacht und vom Jubel seiner Untertanen und den Schmeicheleien seiner Lords abhängig. Doch sein Reich war das beste auf der Welt. Es hatte den vortrefflichsten Käse, die besten Fleischprodukte, die herrlichsten Backwaren, den schmackhaftesten Wein und auch sonst die fähigsten Handwerker weit und breit. Alles war gut, bis eines Tages seine beste Näherin Frau Lerchensporn tot zusammenbrach, nachdem sie drei Tage ohne Pause an einem Gewand für den König nähen musste, das er am folgenden Tag anziehen wollte. Das war natürlich eine Rücksichtslosigkeit seiner Untertanin, und die Lords Spuckelwert, der dürr und gerissen war, und Schlabberlot, der mächtig dick und verfressen war, redeten seiner Majestät wie immer nach dem Mund. Aber nicht nur der Witwer Lerchensporn und seine kleine Tochter Lilli machten den König für den Tod der Ehefrau und Mutter verantwortlich, sondern auch im Volk herrschte Unmut deswegen.

Eine Heldentat musste her, und so begab sich der furchtlose König mit seinen Soldaten in den unwirtlichen Norden seines Reiches, um Jagd auf das Monster Ickabog zu machen. Das Volk war verwundert, denn der Ickabog war ein Ammenmärchen, das man Kindern erzählte, damit sie artig waren. Niemand hatte ihn je gesehen, nur die verarmten und rückständigen Marschländer glaubten offensichtlich an ihn. Die Expedition ging gründlich schief, und bei einer Übernachtung im Moor wurden die Männer von undurchsichtigem Nebel umhüllt. In dieser Nacht kam Major Wonnegleich ums Leben. Die Tat wurde dem Ickabog zugeschoben, der aber von niemandem außer dem König gesehen wurde. Als die Soldaten fragten, was mit dem Schuss war, den alle gehört hatten, begann ein gravierender Wandel. Der Leichnam des Majors durfte nicht begutachtet werden, und die geldgierigen Lords Spuckelwert und Schlabberlot witterten das Geschäft ihres Lebens. Während Wonnegleichs Sohn Wim an das Monster und den Heldentod seines Vaters glaubte, war seine beste Freundin Lilli skeptisch, was beide entzweite. Damit waren die beiden stellvertretend für das ganze Volk.

Alle Untertanen, die die Existenz des gefährlichen Ickabogs anzweifelten, wurden fortan zu Verrätern erklärt, eingekerkert oder Schlimmeres. Die offizielle Version der Geschichten durfte auf keinen Fall in Frage gestellt werden. Es wurde eine Armee gegründet, die im Norden stationiert werden sollte, um das Land vor einem Angriff des Ickabogs zu schützen. Dazu wurden immer höhere Steuern erhoben. Wer sich wunderte, wieso die Soldaten in den Städten blieben und nicht die Grenze im Norden sicherten, hielt besser den Mund. Es verschwanden immer mehr Menschen, die bei Nacht und Nebel angeblich ins benachbarte Königreich abgereist waren. Die Postkutschen wurden abgefangen, sodass kaum noch Post durchkam. So erfuhren die Menschen, die noch in Saus und Braus im Palastbezirk lebten, nicht, dass der Rest des Königreichs in Armut, Hunger und Obdachlosigkeit versank, weil die Menschen die hohen Steuern nicht mehr bezahlen konnten. Tavernen, Herbergen, Handwerksbetriebe, fast alle mussten aufgegeben werden.

Ja, liebe Kinder. So ist es mit dem Lügen. Die Wahrheit kann immer alleine für sich selbst stehen, eine Lüge muss immer wieder genährt werden, und dann verheddert man sich so darin, dass es keinen Ausweg mehr gibt. Und Fred, der Furchtlose, läuft inzwischen Gefahr, seine Krone zu verlieren, denn die Lords meinen, dass das Regieren ohne König vielleicht besser ginge. Doch fünf Jahre später ist die Lage so hoffnungslos, dass die Menschen keine Kraft mehr haben, ständig in Angst und Schrecken zu leben. Lilli und Wim sind mittlerweile älter geworden und wollen das Land wieder in seine alte Pracht zurückführen. Dabei gehen sie der Sache mit dem Ickabog auf den Grund. Die ganze Angelegenheit hat so eine Art Kipppunkt erreicht, von dem an das Lügengerüst in sich zusammenfallen könnte. - Was Joanne Rowling zum Schluss macht, ist einfach grandios: Sie zündet ein Feuerwerk an Fantasie, Abenteuern, Heldentaten, umwerfendem Humor und schafft ein Werk, an dem auch Erwachsene ihre Freude haben. Und weil es ein Märchen ist, wird es zwischendurch zwar richtig böse, aber am Ende auch wieder gut.


Epilog

Joanne Rowling hat in der Zwischenzeit auf ihrer Webseite eine differenzierte und empathische Stellungnahme zur Transgender-Debatte veröffentlicht, bleibt sich selbst aber dabei treu. Und auch die Krimi-Fans wurden mit einem meisterhaften Strike Nr. 5 beglückt. - Ja, und was ist denn jetzt mit diesem Ickabog? Gibt es ihn oder nicht? Das werden zuerst die herausfinden, die die Angst überwinden und nach der Wahrheit suchen.


Helga Fitzner - 8. Januar 2021
ID 12680
https://www.carlsen.de/der-ickabog

https://www.theickabog.com/de/home/


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