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Autobiografie

Lebenswandel

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„Diese Hingabefähigkeit hätte ich von meiner Mutter, raunte er mir begeistert und anerkennend zu.“ (Alexandra Schmidt, Und heute bin ich frei, S. 65)

*

Die beschämendsten aber auch herausforderndsten Geschichten schreibt oft das Leben selbst. Vater-Tochter-Inzest wurde schon vor Christi Geburt geahndet. Nicht nur die Bibel (Lots Töchter) oder Grimms Märchen (Das Mädchen ohne Hände) bebildern den bis heute tabuisierten Fehltritt unheilvoll. Opfer sexuellen Missbrauchs durch Nahestehende verschweigen die Übergriffe häufig. Sie möchten sich und ihren Familien nach außen hin keine Blöße geben. Noch immer wird die Perspektive eines Missbrauchsopfers eher wenig beleuchtet.

Die heute 82jährige Ärztin, Psychotherapeutin und Mutter zweier Töchter Dr. Alexandra Schmidt erzählt in ihrer Autobiografie Und heute bin ich frei mutig, offen und unkonventionell, wie der langjährige sexuelle Missbrauch durch ihren Vater auch nach seinem Tod ihr Leben prägte. Erst mit 71 Jahren fand sie nach eigener Aussage einen Weg zu Würde und Selbstvertrauen. Der mit Schwarz-Weiß-Fotos aus dem Leben der Autorin reichhaltig bebilderte Band schildert Alexandra Schmidts Weg. Acht Jahrzehnte werden in vier Akten und Momentaufnahmen beleuchtet, beginnend mit Erinnerungen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs.

Alexandra wurde 1938 in Berlin geboren. Neben den existenziell bedrohlichen Erfahrungen durch das Kriegsgeschehen wuchs das Einzelkind in einer ihr feindlich erscheinenden, sie oft auch missachtenden Umgebung auf. Schmidt beschreibt in ihrer Biografie prägende Momente, wie etwa eine Eisenbahnfahrt, die sie als Fünfjährige mit ihrer Mutter vor Weihnachten 1944 unternahm:


„Der Zug war heillos überfüllt, und die, die weder Sitz- noch Stehplatz gefunden hatten, hingen in den Fenstern und Türen. Ja, sie saßen oder lagen sogar auf den Wagendächern, um einen der wenigen Züge zu ergattern, die damals fuhren. Wir hörten viele entsetzlich schreien, weil ihnen Körperteile oder sogar der Kopf vor unseren Augen abgerissen wurden, wenn wir durch Tunnel fuhren oder an nahen Masten vorbeibrausten. Meine Mutter stand mit mir an der Hand dicht gedrängt im Gang nahe der Tür. Ich drückte mich eng an sie und wimmerte leise, um nicht zu weinen.“ (S. 29)


Alexandras strenge Mutter untersagte ihr schon als Kleinkind das Weinen. Die schwer psychisch kranke Frau konnte keine Liebe für ihr Kind empfinden und starb früh, an den Folgen eines Suizidversuchs. Der Vater schien narzisstisch nur an seinem eigenen Erfolg und Prestige interessiert und nutzte seine Tochter auch später gewissenlos aus. In der Familie hin- und hergereicht wuchs in dem Kind die Sehnsucht nach dem Vater, der aber über mehrere Jahre als Arzt in Jugoslawien tätig war. Das Wiedersehen mit ihm war zunächst die Erfüllung dieser tiefen Sehnsucht. Aber für die erhoffte Anerkennung musste sich die Tochter seinem Diktat vollständig unterordnen, wozu auch der sexuelle Missbrauch bis hin ins junge Erwachsenenalter gehörte. Es wird nachvollziehbar geschildert, wie wesentlich und für das Leben richtunggebend die Sehnsucht nach Liebe und Anerkennung war. Die Autorin schildert ihren Vater, ein namhafter Arzt, als schillernde Gestalt, der auf andere Menschen in der gemeinsamen Umgebung gewohnheitsmäßig herabschaut:


„Meine Schulfreundinnen, die mich um meinen tollen Vater beneideten und ihn alle sehr verehrten, wurden von ihm ausnahmslos negativ beurteilt. Beispielsweise mit 'Was die für Beine hat! Was für eine Nase! Figur!' oder 'Was für Eltern!' Ähnlich erging es auch seinen Patienten, die ihm alle hörig waren: So sprach er über 'Frau Krummbein' oder 'Herr Hinkefuß', 'der Doofi mit dem offenen Mund' 'das Schielauge' oder 'das Pickelgesicht'. Auch ich fiel in Ungnade bei ihm, wenn ich den Mund offen hatte oder beim Lachen mein Zahnfleisch zu sehen war. So traute ich mich kaum noch zu lachen, und wenn, dann nur sehr verklemmt. Außer im Bett bekam auch ich so gut wie nie Achtung, Anerkennung oder Lob von ihm.“ (S. 73)


Über die Erzählung eines einzelnen Lebenslaufes hinaus, beschreibt die Biografie anschaulich die damalige Zeit, in der es keinen Raum für einen Umgang mit den seelischen Verletzungen gab. Alexandra Schmidt schildert die existenzielle Gefährdung im Zweiten Weltkrieg und die bedrückende Stimmung der Nachkriegszeit. Die sogenannte sexuelle Befreiung wurde zunächst als neugewonnene Freiheit gefeiert. Es zeigte sich aber, dass eine Gleichberechtigung nicht gemeint und ein wirklich inneres Freiwerden nicht beabsichtigt war. Themen wie sexueller Missbrauch wurden in diesen Diskurs nicht aufgenommen.

Alexandra Schmidt hat alle diese gesellschaftlichen und historischen Phasen erlebt und schreibt sehr persönlich und ehrlich über ihre Erfahrungen. Sie versucht - vor dem Hintergrund der sich verändernden Epochen und Lebensabschnitte - im Kern die Frage nach Würde und Liebe zu beantworten. Dies wird im Verlauf der Lektüre immer deutlicher und schält sich für den Leser als das existenzielle Thema heraus, so wie es sich der Autorin in ihrem Leben offenbarte.

Es ist ungewöhnlich, dass eine Psychotherapeutin mit Missbrauchserfahrung so unabhängig von therapeutischen Paradigmen ihren Lebensweg beschreibt und dabei auch nicht das Narrativ des inzwischen (glücklicherweise) etablierten Umgangs mit sexualisierter Gewalt und Missbrauch bedient. Sensibel werden Schlüsselmomente der seelischen Entwicklung herausgestellt. Was das Buch einzigartig macht ist seine sehr offene und ehrliche Haltung zu den Umständen, Sehnsüchten, Irrwegen des Lebens und zum Ankommen in einem liebevollen Selbstbild. Vielleicht kann dieses Ankommen unter derartig schwierigen Voraussetzungen nur gelingen, wenn sich, nach dem Unterordnen unter die idealisierten Vaterfiguren und dem eigenen Narzissmus, etwas hin zu einer höheren Dimension wandelt. Insbesondere die großen Exerzitien im Alter von 70 Jahren bei dem (inzwischen verstorbenen) niederländischen Jesuitenpater Pieter van Bremen halfen Alexandra Schmidt neben ihren beiden Töchtern und beruflichen Erfolgen zu mehr Würde und Selbstachtung.


Ansgar Skoda - 26. Oktober 2021
ID 13246
Verlagslink zur Autobiografie von Alexandra Schmidt


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