Variationen
des Begehrens
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Bewertung:
„Die Vergangenheit mochte ein fremdes Land sein oder nicht. Sie veränderte sich oder stand still, aber ihre Hauptstadt war stets das Bedauern, durch die der große Kanal der unreifen Begierde floss, der sich wiederum ergoss in einen Archipel winziger Hätteseinkönnens, die nie geschehen, aber deshalb noch längst nicht aus der Welt waren, und die immer noch geschehen können, auch wenn wir befürchten, sie werden es nie.“ (André Aciman, Fünf Lieben lang, S. 262)
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Große Gefühle sind genau sein Ding. André Aciman wurde durch den preisgekrönten Liebesroman Call me by your name (2007) international bekannt. In dieser Geschichte verliebt sich der siebzehnjährige Elio im Italien der 1980er Jahre in den 24jährigen Oliver, Doktorand bei seinem Vater. Luca Guadagninos gleichnamige Verfilmung von 2017 wurde 2018 mit dem Oscar für das beste adaptierte Drehbuch (von James Ivory) ausgezeichnet und war in vielen anderen Sparten nominiert. Auch Acimans Folgeroman Enigma Variations (2017; dt.: Fünf Lieben lang, 2019) handelt von Spielarten der Sehnsucht, der Unbedingtheit des Begehrens und vom sinnlichen Alltag gelebter Beziehungen. Aciman lässt fünf große Liebesgeschichten des Ich-Erzählers Paul Revue passieren, davon drei mit Frauen und zwei mit Männern.
Die Erzählung des Italo-Amerikaners Aciman beginnt mit dem 109-seitigen Kapitel Erste Liebe eindrucksvoll und vielversprechend. Der 21jährige Paul kehrt auf eine italienische Insel zurück, auf der er in seiner Kindheit viele Sommer verbracht hat. Er erinnert sich, wie er sich hier als Zwölfjähriger zum ersten Mal zu zu einem Mann hingezogen fühlte. Detailgenau schildert der Ich-Erzähler, wie er sich als einziges Kind wohlhabender Eltern in den jungen Schreiner Giovanni, genannt Nanni, verknallte. Im Hause von Pauls Eltern erhielt Nanni mehrere Aufträge. Paul besuchte den deutlich älteren Nanni damals heimlich in dessen Werkstatt. Der herzliche, zugewandte und offene Nanni zeigte Paul, wie er eine Kommode von Pauls Eltern restaurierte und reparierte. Bald durfte Paul ihm dabei zur Hand gehen. Paul verhielt sich Nanni gegenüber ungeschickt, errötete schnell und hatte Mühe die Unbedingtheit seines Gefühlslebens zu verbergen. Als die Aufträge für Pauls Eltern vollendet waren, besuchte Paul Nanni noch einige Male. Doch bald ließ Nanni durchblicken, dass er nun nur noch wenig Zeit für Paul hätte. Erst Jahre später, als sich Nanni und Paul schreiben, begreifen sie die Kostbarkeit ihrer Begegnung.
Auch das zweite Kapitel des Romans, Frühlingsgefühle, in dem Paul über seine Beziehung zu seiner Freundin Maud, einer erfolgreichen New Yorker Geschäftsfrau, nachdenkt, hat viele starke Momente. Hier kreisen die Gedanken des Ich-Erzählers um Eifersucht und eigene neue Sehnsüchte. Während diese ersten beiden großen Teile des Romans mitreißen, lassen die weiteren Kapitel Manfred und Sternenliebe sowie Abingdon Square im zweiten Teil des Buches etwas nach. Das Thema des Begehrens ermüdet ein bisschen, denn leider ist der Roman auch nicht ganz stringent erzählt. Viele Entwicklungen, über die man als Leser gerne mehr erfahren hätte, werden nur beiläufig erwähnt. Warum scheitert etwa Pauls Liebe zum athletischen Deutschen Manfred, kurz nachdem sie Erfüllung findet? Wie es hierzu kam, darf sich die Leserschaft selbst dazu denken. Es sind letztlich oft nicht diejenigen, die den Erzähler zu sinnlichen Tagträumen verleiten, mit denen er dann tatsächlich in Beziehungen lebt. Warum das so ist, wird mal angedeutet, mal im Ungefähren gelassen. Überraschende Wendungen und Zeitsprünge tragen jedoch trotzdem auch zur Spannung des Romans bei. Während einer Abendgesellschaft berichtet der Erzähler bezeichnenderweise von seiner Überzeugung, dass die Facetten des Lebens ebenso reichhaltig wie ungewiss sind:
„Es gibt ein Leben, das in der normalen Zeit abläuft“, erklärte ich weiter, “und dann eines, das in die normale Zeit einbricht, aber genauso plötzlich wieder verpufft. Und dann gibt es noch ein Leben, das wir womöglich nie leben werden, dabei wäre es so einfach, wenn wir es bloß finden könnten. Es spielt sich womöglich gar nicht auf unserem Planeten ab, ist aber genauso real wie unseres – nennen wir es unser 'Sternenleben'“ (S. 255)
Ansgar Skoda - 19. November 2019 ID 11833
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