Das verschwendete
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„Vielleicht hatte er auch nur gemeint: Wenn die Musik dich nicht verändert, mein Lieber, sollte sie dich wenigstens an etwas erinnern, was ganz und gar dir gehört und was du wahrscheinlich aus den Augen verloren hast, was aber nie gegangen ist und dir immer noch antwortet, wenn nur die richtigen Töne es herbeirufen wie einen Geist, der sich aus einem langen Schlummer erhebt.“ (André Aciman, Find me, S. 261)
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Autoren haben manchmal eine bewundernswerte Macht; insbesondere wenn es zu ihren erfundenen Geschichten und Schicksalen eine große, weltweite Fangemeinde gibt. Mit seinem Debütroman Call me by your name (2007) schuf der amerikanische Schriftsteller André Aciman, selbst Literaturwissenschaftler und -professor, einen internationalen Bestseller. Hierin besucht der 24-jährige US-amerikanische Doktorand Oliver im Sommer 1983 seinen Professor auf dessen Anwesen in der italienischen Lombardei. Er beginnt eine Liebesbeziehung mit dem einzigen Kind des Professors, dem 17jährigen Elio. Luca Guadagninos gleichnamige, sinnlich-sehnsuchtsvolle Verfilmung von 2017 gilt für viele bereits als moderner Liebesfilmklassiker. Der Film wurde 2018 viermal für den Academy Award nominiert (u.a. „Bester Film“) und erhielt den Preis für das beste adaptierte Drehbuch von James Ivory.
Es knüpften sich große Erwartungen an eine mögliche Fortsetzung, insbesondere da der Regisseur schon 2018 ein Filmsequel ankündigte. Aciman, selbst mit einer Frau verheiratet und Vater dreier erwachsener Söhne, veröffentlichte jedoch zunächst einige andere Romane mit teils homoerotischen Inhalten, zuletzt Enigma Variations (2017, Fünf Lieben lang). Find me (orig. 2019, dt. 2020) wurde nun von den Verlagen als Fortsetzung der Geschichte um Elio und Oliver angekündigt. Wie Fünf Lieben lang gliedert sich Find me in unterschiedlich lange Romanabschnitte, die aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt werden und jeweils chronologisch eine unbestimmte Zeit später spielen.
Schon bald wird beim Lesen klar – die im Bucheinband angekündigte Fortsetzung von Call me by your name täuscht; ist gar ein Etikettenschwindel! Das erste, 135 Seiten umfassende Kapitel „Tempo“, wird aus der Perspektive von Elios Vater Samuel erzählt, der im Zug eine sehr viel jüngere Frau, Miranda, kennenlernt und mit ihr in Paris einen späten Frühling erlebt. Dieser erste Romanteil enttäuscht durch Klischees und Pathos. Es sind Altherrenphantasien light, wenn Aciman Miranda gar in Selbstaufgabephantasien für Samuel schwelgen lässt:
„Aber sie machte ein betrübtes Gesicht, und ich sah, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. »Alles, was ich habe, gehört dir. Nicht viel, ich weiß«, sagte sie. Ich wischte ihr die Tränen von der Wange.“ (S. 106)
Der Geschichtsprofessor Samuel zeigt sich inspiriert von Miranda, die ihr amouröses Kennenlernen forciert und ihn auf neue Gedanken bringt. Miranda macht ihm gar Tätowierungen oder Sadomasochismus schmackhaft: „Vor allem aber wollte ich aufhören, über Geschichte zu schreiben – einen Roman vielleicht.“ (S. 109) Allerlei schlüpfrige Metaphern würzen das Geschehen um die beiden. So steht Samuel im Wortsinne an einem Scheideweg, wenn ihm sein „Leuchtturm“ (S. 112; so nennt Miranda sein Geschlecht) die Richtung weist:
„Als auch ich nackt war, trat ich an sie heran und spürte zum ersten Mal ihre Haut, ihren ganzen Körper an meinem. Genau das habe ich mir immer gewünscht. Das und dich. Als sie sah, wie ich zögerte, nahm sie meine rechte Hand und schob sie sich zwischen die Beine, und dabei sagte sie: »Die gehört dir, du hast ja gehört, ich will nicht, dass auch nur der kleinste Schatten zwischen uns ist, und keine halben Sachen. Ich kann nichts versprechen, aber ich werde den ganzen Weg mit dir gehen. Sag mir, dass du das auch tust, sag es mir, und lass die Hand dort. Wenn du nicht bereits bist, den ganzen Weg zu gehen…«“ (S. 104)
Auch das zweite, etwa hundert Seiten umfassende Kapitel „Cadenza“, handelt, nun aus der Perspektive Elios erzählt, von einer erwachenden Annäherung eines Paares mit großem Altersunterschied. Elio, selbst Anfang dreißig und Musiker, lernt während eines Konzertes den Anwalt Michel kennen. Elio verliebt sich in Michel, der einen Sohn in seinem Alter hat und selbst bereits mehrfacher Großvater ist. Leider kann Michel sein Glück kaum glauben und zweifelt regelmäßig an Elios Liebe zu ihm:
„»Das hier, heute Abend, ist wunderbar.« »Wunderbar, ja.« Aber er sagte es in einem wehmütig resignierten Ton, der Melancholie nicht fern, so als wäre ich eine Schüssel, die man vor seinen Augen abräumte, noch ehe er seine Portion bekommen hatte. Geht es einem so, wenn man fast doppelt so alt ist – man verliert Menschen, auch wenn sie noch gar keine Anstalten gemacht haben, sich anderweitig umzusehen?“ (S. 223f.)
Wehmütig und melancholisch hat Michel Angst von Elio als „ein alter Lustmolch“ (S. 226) wahrgenommen zu werden. Michel nimmt eine letztendliche Vergeblichkeit ihrer Beziehung aufgrund des Altersunterschieds stets vorweg. Er erzählt Elio altersweise allerlei Geschichten, die von der grausamen Endlichkeit des Lebens handeln:
„»Von meinen Großonkel habe ich dir schon erzählt. Eine Urgroßmutter ist wahrscheinlich in Ausschwitz ermordet worden. Aber ich bin mir nicht sicher. Du stirbst, und kein Mensch spricht von dir, und ehe du dich versiehst, fragt niemand mehr, die Leute erzählen nichts mehr, wissen nichts mehr oder wollen auch nur etwas wissen. Du bist aus der Welt, hast nie gelebt, nie geliebt. Die Zeit wirft keine Schatten, und die Erinnerung streut keine Asche.«“ (S. 235)
Erst im letzten und kürzesten Kapitel (nur fünfzehn Seiten!) treffen Elio und Oliver tatsächlich wieder aufeinander. Auch hier wird vor allem überladen über die Möglichkeiten des Lebens und der Liebe nachgedacht, so überhöht Elio Oliver mehrere Seiten lang:
„Er war schon hier gewesen, bevor er zu uns kam, vor meiner Geburt, noch ehe vor Generationen der erste Stein gelegt wurde, und unsere Jahre zwischen damals und heute waren nicht mehr als ein Wimpernschlag auf diesem langen Weg namens Zeit. So viel Zeit, so viele Jahre, dazu all die Leben, die wir durchstreift und hinter uns gelassen hatten, als hätte es sie nie gegeben, obwohl es sie sehr wohl gegeben hatte, ehe wir uns umarmten und so spät am Abend ins Bett gingen, die Zeit ist immer der Preis, den wir für das ungelebte Leben zahlen.“ (S. 287)
Allzu larmoyant werden das Schicksal, die Wege, Karten oder Schichten des Lebens befragt. Es erscheint ein wenig realitätsfern, wenn bei Elios und Olivers gemeinsamer Zukunftsvision Olivers Söhne auf dem Internat keine Erwähnung finden. Find me ist eine viel zu kurze, recht esoterische und bedeutungsschwangere Fortsetzung für das Paar aus CMBYN. Acimans Roman ist somit wahrscheinlich keine gute Vorlage für Luca Guadagninos angekündigtes Filmsequel. James Ivory, für das Drehbuch zu CMBYN oscarprämiert, ist demgemäß auch bereits aus dem Filmprojekt ausgestiegen.
Ansgar Skoda - 12. Oktober 2020 ID 12525
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