„Vor-bei,
vor-bei,
vor-bei.“
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Bewertung:
„Eine Eisenbahn war ein Zuhause. Hier waren alle fremd und durften doch da sein, dabei sein, bleiben. Es war wie in einem Museum, auch wie in manchen Kirchen, wie in vielen Moscheen mit ihren Teppichen, wohnlich.“ (Angelika Overath, Unschärfen der Liebe, S. 92)
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Angelika Overath schaffte es mit Unschärfen der Liebe, einer Fortsetzung von Ein Winter in Istanbul (2018), auf die Longlist des diesjährigen Deutschen Buchpreises. Erzählt wird aus der Perspektive von Baran, der im Vorgängerroman in seiner Heimat Istanbul den Schweizer Religionslehrer Cla kennen und lieben lernte. Mittlerweile sind beide ein Paar, doch die Fortsetzung der Liebesgeschichte wird alleine aus der Sicht des türkisch-griechischstämmigen Baran erzählt.
Nach dem Abschied von Clas vorheriger Partnerin Alva und dem gemeinsamen Kind von Cla und Alva, Florinda, sitzt Baran im Nachtzug von Sofia nach Istanbul, wo er Cla wiedersehen wird. Baran zweifelt an der Treue Clas und fühlt sich auch zu Alva hingezogen. Während der Fahrt durch den Balkan spielen Vergangenes, Erdachtes oder Erträumtes in die leise erzählte Gegenwartsebene des Bewusstseins des Protagonisten hinein. Beiläufig erzählte Beobachtungen bleiben dabei mitunter farblos und diffus. Der Weg scheint das Ziel, denn der Blick aus dem Fenster bestimmt das Handlungsgeschehen. Eindrücke ziehen während der Fahrt fließend vorbei:
„Gemüsegarten, Birkenspaliere. Stainich-Irding, Abendsonne jetzt, ein blauer Schleier am Himmel. Bestattung Heidi, dann Billa, ein Lebenshilfe-Plakat, ein Baumarkt, ein Autohaus, ein Hotel mit Bankomat.“ (S. 74)
Durchreise-Beobachtungen vom Alltag unbekannter Mitreisender oder Passanten, offene, fließende Erinnerungen, atmosphärische Sinneseindrücke und literarisch mit Bedeutung aufgeladene Wahrnehmungen vermengen sich. Sie verlieren sich mitunter in trivialen Details, wenn Baran etwa über den Wäscheservice oder seine Unterhosen nachdenkt (S. 110). Mitunter leitet die Autorin jedoch geschickt auf eine höhere Ebene über, wenn Sie die Dauer des Geschehens über mehrere Zeitebenen miteinander verwebt:
„Der Zug fuhr an und beschleunigte. Durch die Spiegelbilder der Lämpchen auf der Fensterscheibe sah er hinaus. Draußen also, da zog nun eine slowenische Nacht vorbei. Eine ehemalige sozialistische jugoslawische Nacht, eine Nacht des Königreichs Jugoslawien, eine Habsburger Nacht, eine Nacht des Herzogtums Krain, eine Nacht des Heiligen Römischen Reichs, eine Nacht Karantaniens. Blitzlichter auf dunklen Ebenen. Und noch früher, welche Nächte noch? Wenn die alten Namen zurückkamen, überblendeten sie die Landschaft, tauchten sie ein in das Gespenstische von Geschichte.“ (S. 86)
Dann plagen den Protagonisten auch assoziative Träume:
„Auf seinem Falkenkopf balanciert er einen glühenden Ball.“ (S. 122f.)
Diese und auch kleine Tippfehler wie „trokken wie Holz“ (S. 175) erschweren den Lesefluss. Interessant sind eher homophile Anekdoten, wenn etwa bedeutungsvoll auf eine mögliche Homosexualität von Mustafa Kemal Atatürk verwiesen wird:
„Immer wieder kamen Gerüchte auf, der Vater der Türkei, geboren in Thessaloniki, gestorben in Istanbul (am 10. November 1938 um 9.05 Uhr – und heute noch blieben Menschen auf der Straße an diesem Datum zu dieser Uhrzeit für einige Augenblicke des Gedenkens stehen), habe auch Männer geliebt.“ (S. 174)
Es sind, wie im Vorgängerwerk, insbesondere stilistisch ansprechende, genaue und atmosphärische Bilder, die eine Spannung im erzählten Geschehen erzeugen. Leider nimmt der Roman auf inhaltlicher Ebene erst gegen Ende ein bisschen an Fahrt auf und überrascht mit einer erschütternden, dramatischen Wendung, die hier natürlich nicht verraten werden darf.
Ansgar Skoda - 15. Dezember 2023 ID 14524
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