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Roman

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im Geiste





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„Wer aber ist es, die lügt, die Geld und Monatskarten stiehlt, die Schnaps in den Kaffee schüttet und nicht nach Hause fahren kann, es einfach nicht kann.“ (Antje Rávik Strubel, Blaue Frau, S. 288)

*

Ist es Europa-, Ost-West-, Gender- oder Sprachkritik, ein Coming-of-Age- oder ein negativer Bildungsroman, oder doch eine Rape-Revenge-Geschichte? Das vielschichtige Werk Antje Rávik Strubels hinterlässt einem mitunter sprachlos und mit vielen Fragezeichen. Der komplexe, vieldeutige, mehrebige Roman Blaue Frau über das Schicksal der jungen Tschechin Adina gewann in diesem Jahr überraschend den deutschen Buchpreis. Im Feuilleton galt zuvor Eurotrash von Christian Kracht , das auch auf der Shortlist stand, als Favorit. Die 47jährige Potsdamer Schriftstellerin und Übersetzerin Strubel arbeitet in Blaue Frau mit unzähligen Verweisen und Zitaten. Unsicherheit ist in ihrem Roman Programm. Erzählperspektiven und Erzählzeiten wechseln. Man hat fortwährend das Gefühl, hier schreibt jemand betroffen gegen etwas an:


„Das Bild verschwimmt. Der Monitor fängt an zu flackern. Der letzte Tropfen, den sie vom Glasrand leckt, ist bitter, und auf einmal dreht sich alles, das Wohnzimmer, der Tisch und die Wanduhr hängen Kopf. Sie hält sich mit beiden Händen an der Tischkante fest. Bitterkeit und Schwindel und Wut sind alte Vertraute. Nur richten sie sich ausgerechnet jetzt in aller Schärfe gegen sie selbst. Denn die Frau im Abglanz der Flammen erinnert daran, wie es ist. Und immer ist es so: Die Umstände hätten weniger gegen einen auszurichten vermocht, hätte man mehr Format gehabt, mehr Selbstvertrauen, mehr Lässigkeit.“ (S. 305f.)


Die temperamentvolle Adina verlässt ihr Heimatdorf. Sie kommt aus Harrachov, einem Skiferienort im Norden Tschechiens, an Polen angrenzend. Auf der Suche nach Herausforderungen strandet sie erst in Berlin. Dort lernt sie eine lesbische Fotografin kennen. Diese vermittelt ihr ein Praktikum bei einem neuen Kulturzentrum auf einem Landgut in der Uckermark. Dort wird sie bald von einem Geschäftspartner ihres Chefs vergewaltigt und der Freiheit beraubt. Irgendwie kann sie fliehen und kellnert bald als Schwarzarbeiterin in einem Hotel in Helsinki. In Finnland beginnt sie eine Beziehung mit einem Professor und Europaabgeordneten. Doch schnell wird sie erneut mit dem erfahrenen Leid konfrontiert. Adina, im Roman auch Sala oder Nina genannt, kommt auf ihrer Suche scheinbar nirgendwo an. Ihre Ideale werden verraten, Gewissheiten erscheinen als unsicher, die androgyn wirkende Zwanzigjährige reagiert schlussendlich impulsiv.

Wer die titelgebende „Blaue Frau“ ist, mit der die Protagonistin im Romanverlauf mehrfach unmotiviert innige Zwiegespräche führt, bleibt bis zum Ende geheimnisumwoben. Kryptisch und gleichnishaft ergehen sich beide auf Spaziergängen in Traumdeutungen. Wahrscheinlich soll die blaue Frau eine weise ältere Wiedergängerin der Protagonistin darstellen (z.B. S. 325). Die Dialoge erscheinen nämlich auch als Selbstgespräche deutbar. Die Perspektiven wechseln ohnehin im Romanverlauf mehrfach. Die Frage, wer spricht, ergibt sich zwangsläufig, wenn das lyrische Ich sich sogar als erfahrene Autorin geriert:


„Dabei hat mich die DDR nicht mehr beschäftigt, seit ich einen Roman über die Entführung einer polnischen Tupolew von Gdansk nach Berlin-Tempelhof veröffentlichte.“ (S. 327)


Handelt es sich hierbei um Strubels Roman Tupolew 134 (2004). Wie autofiktional ist das Werk, oder spielt Strubel hier bewusst mit ihren Lesern? Der Fundus an Anspielungsreichtum schließt auch das Werk zahlreicher anderer Autoren mit ein. So heißt es über das Schicksal des Professors Leonides, der in Adina verliebt ist:


„Schriftsteller liefern immer jemanden ans Messer, so hat es Joan Didion einmal formuliert.“ (S. 304)


Neben der amerikanischen Journalistin und Schriftstellerin Didion wird auch Ilse Aichinger zitiert, „Im Unerkundbaren kommen wir einander nah.“ (S. 293) Es gibt auch zahlreiche Verweise auf Virginia Woolf (S. 371, S. 411), D. H. Lawrence (S. 376) oder Kurt Tucholsky. Wenn es um das zentrale Thema der Vergewaltigung geht, sprechen Protagonisten, die Adina beistehen möchten, auch über Statistiken:


„'Laut Statistik erlebt jede dritte Frau sexuellen Missbrauch oder Gewalt.'“ (S. 364)


Man meint mitunter, die #metoo-Debatte lebe neu auf, wenn das Recht, über den eigenen Körper selbst zu bestimmen, betont wird (S. 292). Eine Protagonistin betont akribisch:


„'Meines Wissens werden in Deutschland von hundert angezeigten Vergewaltigungen aber nur zehn verurteilt. Das ist unterdurchschnittlich im europäischen Vergleich. Die meisten Sexualstraftäter kommen frei.'“ (S. 354)


Die Unsicherheit der Hauptfigur, die etwa im Fahrstuhl eine „klare schutzlose Abwesenheit“ (S. 193) wahrnimmt und immer wieder unheimliche Dunkelstellen ausmacht, überträgt sich bald auch auf den Leser. Adinas Verständnis der Wirklichkeit wird auch von anderen Protagonistinnen hinterfragt:


„'Wir leben nie dort, wo wir sind. Unsere Wirklichkeit liegt außerhalb von uns', sagte Kyrill.“ (S. 183)

„'
[…] Plötzlich hast du eine Ahnung, das vage Gefühl, dass es noch etwas anderes gibt, eine mannigfaltige Welt...'“ (S. 169)



Diese Protagonisten ergehen sich sogar Adina gegenüber in Wortneuschöpfungen:


„'je preisgekrönt, desto durchergefallen.'“ (S. 161)


Später, nachdem sie Vergewaltigungsopfer war, wird ihr eine andere Frau sagen:


„»Du glaubst, du bist so viel wert wie ein Mann. Falsch.'“ (S.268)


Diese schmerzhafte, diskriminierende Behauptung wird leider bis zum Romanende hin fortformuliert. Gegen Ende beklagt eine andere Ich-Erzählerin die Gegenwart einer „allseits eingeübten Bevorteilung von Männern, in der sich jede Gesellschaftsnorm, jede Religion und jede Hautfarbe glichen.“ (S. 411) Dieser Patriarchats-Gedanke verfestigt sich auch durch Bezug auf die Müttergeneration:


„Ihre Mutter war in ein Jahrhundert hineingeboren, das gemäß der Wünsche und Bedürfnisse von Männern benannt, geordnet und zerstört worden war. Das brannte sich ein.“ (S. 403)


Auch der estländische Europaabgeordnete Leonides Siilmann wird als Professor in einer Vorlesung mit unterschiedlichen sozialen Realitäten konfrontiert. Wenn er nach europäischem Bewusstsein fragt, denken seine Studierende an „'Junge Osteuropäerinnen, die deutschen Männern im Akkord die Schwänze lutschen? Fuck Europa!'“

Auch bei Leonides, eine der wenigen positiven Männerfiguren im Roman, beklagt eine der Erzählerinnen fehlendes Einfühlungsvermögen und Sentimentalität (S. 362). Subtile Misandrie schwingt aus der Ich-Perspektive mindestens dieser Erzählerin mit. Einige Wendungen erscheinen insbesondere gegen Ende sehr konstruiert, wenn es etwa um die Verbindung zwischen Leonides und dem Vergewaltiger Adinas geht. Die Hauptfigur wird zuletzt recht vorhersehbar zum Racheengel stilisiert. Strubel konnte sich bei der Buchpreisvergabe immerhin auf eine überwiegend weibliche Jury verlassen. Fünf der sieben Mitglieder waren Frauen; wenigstens die Buchbranche erscheint hier frauendominiert. Und auch Preise – nicht nur der im Roman thematisierte Eeva-Liisa-Manner-Preis – entscheiden oft darüber, was gesagt werden muss und wer es sagen darf. Weniger Pathos, Betroffenheit und Experimentierfreude hätten dem, über weite Strecken sicherlich ungewöhnlichen Roman gutgetan.


Ansgar Skoda - 20. Dezember 2021
ID 13367
S. Fischer-Link zur Blauen Frau von Antje Rávik Strubel


Post an Ansgar Skoda

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