Sammelsurium
eines zweifelnden
Geistes
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Bewertung:
„Wie können Vorstellungen, Wünsche und Ängste den Körper verändern? Steht der Geist über der Materie? Haben wir es hier mit einem Zusammenspiel von psychologischen und physiologischen Faktoren zu tun?“ (Siri Hustvedt, Die Illusion der Gewissheit, S. 134)
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Im aktuellen Wissenschaftsjahr zur Künstlichen Intelligenz (KI) könnte es sich lohnen namhafte Denker zu lesen, die sich ausführlich der Frage widmen, wie das Bewusstsein vom Geist gelenkt wird. Kann es KI geben, und ist dieser Begriff eigentlich stimmig? Wie produziert das Gehirn Gedanken, und welche Auffassungen gibt es vom denkenden Menschen in seinem Verhältnis zur Welt? Die New Yorker Philosophin und Kunstkritikerin Siri Hustvedt erarbeitet sich seit vielen Jahren Zugänge zu wissenschaftlichen Themen insbesondere in den Neurowissenschaften. Nach ihrem vielschichtig angelegten, abwechslungsreichen Roman Die gleißende Welt (2015) beschäftigt sie sich in einem umfangreichen Essay Die Illusion der Gewissheit (Orig.: The Delusions of Certainty, 2017) mit unterschiedlichen Facetten des Geist-Körper-Problems. Die 64jährige Bestseller-Autorin analysiert den Stand der Forschung und verarbeitet dabei Analysen und Widersprüche unzähliger Forscher:
„Tatsache ist, man ist sich nicht einig über den Geist. Es gibt keine einheitliche Theorie darüber, was er ist. Es herrscht Verwirrung, und nicht nur bei jenen, die sich selten Gedanken über das Körper-Geist-Dilemma machen. Naturwissenschaftler, Philosophen und Gelehrte aus allen Bereichen geraten bei diesem Problem oft aneinander.“ (S. 38)
Insbesondere Wissenslücken und falschen Ansichten beschäftigen die Autorin. So kritisiert sie etwa völlig unterschiedliche Definitionen des Begriffs und der Einheit Gen. Hustvedt führt eigene Herleitungen aus und zieht Schlussfolgerungen. Ihre Thesen illustriert sie dabei mit Beispielen aus ihrem persönlichen Alltag. Auch ihre zuvor veröffentlichten Sachbücher waren oft autobiographisch, so schrieb sie 2009 in The Shaking Woman or A History of My Nerves über ihr Leben mit einer Nervenkrankheit.
Neben Phänomenen wie dem Placebo-Effekt, der Hysterie, Scheinschwangerschaften, dissoziativen Identitätsstörungen und der Leib-Seele-Problematik wird in Die Illusion der Gewissheit ein Schwerpunkt auf das Thema der künstlichen Intelligenz gelegt. Die Autorin widerspricht vehement der Idee, dass technische Entwicklungen maschinell einen Geist erzeugen können. Sie behauptet, dass das kognitive Theoriemodell des Geistes als Rechenmaschine nicht stimme. Denken schließt ihr zufolge auch Fühlen, Symbole und Bewegung ein.
Leider sind die Überlegungen im 400-Seiten starken Werk sehr ausufernd, spröde und sperrig. Allein die 380 Anmerkungen der Schriftstellerin bezeugen ihre schier unermüdliche, zur Schau gestellte Belesenheit. Ein eigenes Literaturverzeichnis hat der Band trotzdem leider gar nicht. Die Autorin kommt vielfach vom Hölzchen aufs Stöckchen und findet keine eindeutige Linie. Hustvedts Werk mutet so oft wie eine Collage an, der es an Struktur fehlt. Oftmals sind ihre Thesen auch nicht besonders erhellend oder interessant. So hält sie beispielsweise fest, dass Menschen häufig nur das sehen, was sie erwarten. Leider verwendet sie für ihre Thesen manchmal sogar unwissenschaftliche Begriffe wie „Macho-Brille“ (S. 122) und schreibt dann woanders auf hohem Niveau. Auch verkürzt Hustvedt selbst mitunter Zusammenhänge auf verdauliche Halbwahrheiten, die sie wiederum anderen verwirft. Insgesamt also ein eher durchwachsenen Werk, das aber immerhin mit einigen Evolutionsmärchen oder Phantastereien der KI-Forschung aufräumt.
Ansgar Skoda - 16. August 2019 ID 11620
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Die Illusion der Gewissheit
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