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„Etwas kann so oft und eindrücklich erzählt werden, dass man meint, sich selbst daran zu erinnern. Einige Geschichten werden immer wieder erzählt, Sinnzusammenhänge erneuern sich, bislang unbekannte Deutungen tauchen auf – und mit jedem Erzählen verändert sie sich, stetig, unmerklich. Einzelheiten werden hinzugefügt, andere ausgelassen. Irgendwo wächst die Unbestimmtheit, etwas rückt immer weiter fort, bis es ganz vergessen ist. An anderer Stelle wird etwas immer deutlicher, als sähe man durch blankes Glas.“ (Iris Wolff, Die Unschärfe der Welt, S. 183)


Eindrücke vom Terrorregime Nicolae Ceaușescus, von 1965 bis 1989 Präsident in Rumänien, können oberflächlich und trotzdem erschütternd sein, etwa wenn bewusst nur beiläufig hingeschaut wird. Die Gewaltherrschaft des rumänischen Diktators prägte viele Jahre auch das Leben der Banater Schwaben, einer deutschen Bevölkerungsgruppe im rumänischen Teil des Banats, einer Region, die heute den Staaten Rumänien, Serbien und Ungarn zugehört. Iris Wolff betrachtet in Die Unschärfe der Welt (2020) eine Familie aus dem Banat von den 1960ern bis in die Gegenwart. Sie selbst wurde 1977 im Banat in Hermannstadt/ Siebenbürgen geboren und wanderte mit ihrer Familie 1985 nach Deutschland aus. Die heute 43jährige Autorin erweist sich als eine große Erzählerin, wenn sie sensibel und leise die Sehnsüchte und Ängste, die Kraft und die Zuversicht ihrer Figuren von vier unterschiedlichen Generationen betrachtet.

Kunstvoll verwebt Iris Wolff in ihrem Mehrgenerationenroman Sinneseindrücke und Detailbeobachtungen. Der Geheimdienst "Securitate" hat auch im Banat seine gefürchteten inoffizielle Mitarbeiter und prägt auch bei leutselig-redegewandten Bürgern Misstrauen und Vorsicht:


“Man musste beim Erzählen aufpassen. Kam man von einer vorgegebenen Spur in ungewisses Fahrwasser, konnte sich noch etwas anderes zu Wort melden, Sehnsüchte, Ängste, Wahrheiten.“ (S. 76)


Die Verständigung wird jedoch auch dadurch erschwert, dass nur wenige die gepflogene Mundart Banatschwäbisch beherrschen und unterschiedliche Sprachen verbreitet sind:


„Malva konnte als Einzige kein Deutsch, Hannes kein Slowakisch, so dass sich die Erwachsenen auf Rumänisch unterhielten, was wiederum Liv und Jarik nicht verstanden, und sich so in den Tagen ihres Besuchs drei Sprachen abwechselten.“ (S. 201)


Erzählstimmen und Perspektiven wechseln mehrfach. Die Politik wirkt nur selten vordergründig in den familiären Alltag ein, spielt am Rande jedoch eine große Rolle, da sie das Leben der Figuren beeinflusst. Andere durch Erfahrungen in der Ceaușescu-Ära geprägte Romane wie autobiografisch angereicherte Werke von der ebenfalls in Rumänien geborenen Herta Müller, etwa Der Fuchs war damals schon der Jäger (1992), sind hier deutlich anklagender, finsterer und detaillierter. Trotzdem erinnern lakonische Gedanken erzählender Figuren wie Oswald an das allgegenwärtige Moment der Gefahr in einem Unrechtssystem:


„Für das erfundene Spiel des Diktators brauchte es viele. Soldaten, Polizisten, Ärzte, Richter, Gefängniswärter, Journalisten – sie würden nie, unter keinen Umständen, zugeben, dass die Ordnung, in der sie lebten, ein Phantasieprodukt war. Und so lange, wusste Oz, würde es Wachtürme geben und Gefängnisse, blanke Schuhe und verknotete Schnürsenkel. Es würde sinnlose Gesetze geben und, dadurch verursacht, mit nichts zu rechtfertigendes Leid. Die Angst würde es geben und schlimmer, die Angst vor der Angst.“ (S. 132f.)


Unscheinbar zeigen einige Figuren, wie Florentine oder später ihr Sohn Samuel, leisen Mut in Zeiten rigider Unterdrückung. Es wird eine historische Identität Banats als Teil eines Auswanderungslandes, geprägt von Korruption, gezeichnet. Man erfährt, dass ausreisewillige Deutsche von der BRD durch ein Kopfgeld freigekauft werden konnten und das Deutsche in Securitate-Korrespondenzen „unter dem Decknamen 'pădureni' (Waldbewohner) geführt wurden“ (S. 132). Andere nebenbei einfließende tschechische oder rumänische Worte (S. 53) werden nicht in das Deutsche übersetzt, etwa „Ţară fericită“ (Glückliches Land), S. 56. Die Geschichte wird durch viele genaue und sinnliche Naturbeobachtungen bereichert, wenn etwa der Pfarrer Hannes während einer Fahrradfahrt die Kraft des sommerlichen Windes spürt (S. 45f.). Iris Wolff erhielt 2021 den Marie Luise Kaschnitz-Preis und war unter anderem mit Die Unschärfe der Welt 2020 auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis. Es wäre der Autorin zu wünschen, dass sie ihre ambitionierte Lesereise mit dreißig Terminen in verschiedenen Städten trotz der gegebenen Umstände 2021 umsetzen kann.


Ansgar Skoda - 10. Januar 2021
ID 12684
Verlagslink zu Die Unschärfe der Welt von Iris Wolff


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