Edgar und
seine
Brüder
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Bewertung:
„Im Handumdrehen ist ein Strudel von Formen explodiert. Die Energie hat sich vervielfacht. Da ist etwas erwacht, das seine Möglichkeiten entdeckt hat und das jetzt, einmal aufgestört, nicht mehr zu bändigen ist. Eine Spur frisst sich ins Leben.“ (Edgar Selge, Hast du uns endlich gefunden, S. 135)
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Es ist wahrlich eine „Schussfahrt des Schicksals“ (S. 245), die Edgar Selge mit seinem Romandebüt Hast du uns endlich gefunden vorlegt. Wer den prominenten Schauspieler als wandelbaren Charakterdarsteller auf verschiedenen Bühnen, u.a. als Peer Gynt in Stuttgart, erlebte, erinnert sich an prahlerisch-schelmische lustvolle (Lügen-)geschichten seiner Figuren. Für Unterwerfung wurde er beispielsweise als Schauspieler des Jahres 2016 geehrt. Während der Pandemie war Selge als „Mitglied der Risikogruppe“ (S. 131) gezwungen, sich zurückzuziehen. Der heute 74-Jährige nahm sich die Zeit, sich literarisch der eigenen Vergangenheit zu widmen. Er fand mit seinem Bestseller ein neues Publikum. Selges autobiografischer Debütroman bebildert starke Gefühle und erzeugt Spannung mit wechselnden Figurenkonstellationen und ungewöhnlichen Anekdoten.
Selge gibt sich auch schon einmal lustvoll Illusionen hin:
„Am liebsten bin ich ein achtjähriger, verwachsener kleiner Junge mit dicken Brillengläsern, der Franz Liszts Schneetreiben-Etüde im Affenzahn über die Tasten wischt.“ (S. 294)
Als Leser ist man, wenn man Selge als humorig wandelbaren Akteur kennt, stets ein bisschen auf der Hut. Seinen Roman widmet Selge seinen Brüdern, von denen zwei jung verstarben. Vielleicht nicht grundlos befürchtet einer der zwei verbliebenen älteren Brüder, dass Edgar dessen Geschichte als die seine ausgibt (S. 248).
Edgar wurde nach dem gemeinsamen Vater benannt. Der promovierte Jurist Edgar Selge (1903–1975) war Regierungsdirektor der nachbarschaftlichen Herforder Justizvollzugsanstalt für Jugendliche. Selges Vater war zugleich leidenschaftlicher Pianist, der mit namhaften Solisten Konzerte für seine Häftlinge veranstaltete. Die Liebe zur Musik schafft eine Verbindung zwischen den Söhnen und den Eltern. Selge selbst begann ein Klavierstudium, bevor er sich der Schauspielerei zuwandte.
Als Beweggrund für die Verschriftlichung seiner teils schmerzhaften Erinnerungen gibt Selge romanimmanent an, vom eigenen Vater geschlagen worden zu sein. Seine innere Zerrissenheit rührt daher, dass er seinen Vater trotzdem liebt: „Ich will nicht einer sein, der den liebt, der ihn schlägt.“ (S. 131) Mehrfach spielen Gewaltausbrüche und peinigende Übergriffe des Vaters in den Erinnerungen eine Rolle.
Edgar, der 1948 in Brilon im östlichen Sauerland geboren wurde, ist ein Kind der Nachkriegszeit. Seine Eltern flohen am Ende des Zweiten Weltkrieges von Ostpreußen nach Westfalen. Als Kind verinnerlichte Edgar das Gefühl, nicht dabei gewesen zu sein:
„Der Krieg ist die Zeit, wo alles passiert ist. Alle zehren vom Krieg. Alle beziehen ihre Kraft aus dieser Zeit. Auch wenn sie sich davon abstoßen. Nur ich habe keine Erinnerungen. Niemand redet genau über die Abläufe damals. Jedenfalls nicht Schritt für Schritt. Nicht in einer Reihenfolge, die einen Sinn ergibt.“ (S. 89)
Einfühlsam betrachtet Selge die politischen Auseinandersetzungen zwischen seinen älteren Brüdern und seinen Eltern. Insgeheim schmerzt ihn das elterliche verbissene Verdrängen der NS-Vergangenheit:
„Wenn ich das lese, wieder und wieder lese, fühlt sich der alte Mann wie ein erkalteter Planet, der von frühen Naturereignissen träumt. Was unter den tektonischen Platten rumort, kann das nochmal ausbrechen?“ (S. 64)
Ein gewisses leises, geteiltes Verständnis und Zwiegespaltenheit gegenüber dem Vater zeichnen sich ab:
„Er will nicht als Nazi rüberkommen, aber sein ganzes Denk- und Sprachgebäude ist in dieser Zeit errichtet worden, und so schnell findet er kein anderes.“ (S. 137)
Das Vergangene spielt mehrfach in die unmittelbare Gegenwart hinein, etwa wenn Edgar wiederholt an wichtige Orte der Vergangenheit zurückkehrt. So betrauert er viele Jahre später am Unfallort den Tod eines seiner Brüder, Rainer, der als Kind während des Funds einer Granate umkam:
„Fünfundvierzig Jahre später streife ich durch den Bückeburger Palaisgarten. Wo ist der Busch, wo der Baum, unter dem die Granate gelegen hat?“ (S. 72)
Edgar Selge schildert im Großen und Ganzen feinsinnig berührende, erschreckende aber auch versöhnliche Kindheitserinnerungen. In seinem melancholischen, nichtsdestotrotz hoffnungsvollen Roman durchkreuzt er die eigene Kindheit „in Wellen aus Liebe oder Strudeln von Wut“ (S. 281). Selge widmet sein Leben der Kunst. Wenn er sich einen vergangenen Museumsbesuch gemeinsam mit seinem Vater vergegenwärtigt, erinnert er sich bemerkenswerterweise an eine „berauschende Entdeckung“ (S. 191) beim Betrachten von Rembrandt van Rijns Gemälde Simson bedroht seinen Schwiegervater :
„In einem Augenblick habe ich begriffen, dass es der Zerfall ist, der uns zusammenhält. Der alles zusammenhält. Wie in einem feinen Regen vibriert die ganze Welt im Zerfall.“ (S. 192)
Ansgar Skoda - 3. August 2022 ID 13738
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