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Roman

Nur ein

Steinwurf

in die

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„Was hatte ihn angetrieben, was hatte er gesucht so weit weg von dort, wo er geboren worden war, warum war er so rastlos gewesen und hatte er endlich hier in der Fremde seinen Frieden gefunden?“ (Helon Habila, Reisen, S. 164)

*

Flüchtlinge aus Afrika nehmen viele Gefahren in Kauf, um nach Europa zu gelangen. Doch nach der entbehrungsreichen Reise ist der Neuanfang meist schwerer als gedacht. Erschöpft und oft traumatisiert werden sie in Flüchtlingslagern untergebracht. Entwurzelung und Heimatlosigkeit sind erschreckende Erfahrungen. Gleichzeitig müssen Immigranten meist eine neue Sprache erlernen und neue kulturelle Gepflogenheiten erwerben. Helon Habila, selbst 1967 in Nigeria geboren, erzählt in seinem vierten Roman Reisen (2020; orig. Travelers, 2019) von Schicksalen afrikanischer Migranten in Europa.

Der Erzähler begegnet im Romanverlauf mehreren Menschen aus seiner Heimat, die ihm ihre traurigen und schweren Schicksale erzählen. Der gebürtige Nigerianer ist jedoch selbst kein Flüchtling. Er ist Promovend und lebt eigentlich in den USA. Er begleitete seine promovierte amerikanische Freundin nach Berlin, die dort ein Stipendium absolviert. Seine Freundin malt afrikanische Zuwanderer, die der Erzähler in der gemeinsamen Wohnung kennenlernt. Der Ich-Erzähler promoviert über die sogenannte Kongokonferenz, in der Afrika in Kolonien aufgeteilt wurde. Diese Westafrika-Konferenz fand auf Einladung des deutschen Reichskanzlers Bismarck 1884 bis 1885 in Berlin statt. Obwohl der Protagonist seine Promotion im Romanverlauf abschließt, wird seine Studienarbeit im Plot nicht thematisiert. Der Mittdreißiger, der während der erzählten Zeit auch in der Schweiz, in Italien oder in London lebt, bleibt bis zum Romanende namenlos.

In Berlin schließt er sich einer Gruppe junger Menschen Anfang dreißig an, die in Kreuzberg eine heruntergekommene Kirche mit Barockfassade besetzt. Während der Mai-Demo protestiert er zusammen mit der Clique gegen ein türkisches Café. Die gewaltsame Aktion richtet sich gegen den Inhaber, der Schwarzen den Zutritt verweigert, weil er sie für Illegale oder Drogendealer hält. Zusammen mit seinen Freunden wirft der Erzähler dabei Steine auf Polizisten, die den Zutritt zum Café versperren. Der Ich-Erzähler ist stolz, Teil einer solidarischen Aktion gegen Fremdenfeindlichkeit zu sein. Er hat keine Probleme damit, andere Menschen zu gefährden: „Jetzt musste ich mir eingestehen, dass sie sich zumindest über andere Gedanken machten, nicht nur über sich selbst, willens waren, die Polizei mit Steinen zu bewerfen und für ihre Ideale sogar ins Gefängnis zu gehen – wie viele Leute waren dazu fähig?“ (S. 34)

Die Haltung des Ich-Erzählers und seiner neu gewonnenen Freunde erscheint auch im weiteren Romanverlauf problematisch. Eine Aktivistin, Lorelle, geht mit dem Ich-Erzähler essen, um ihm am Ende eines, im Gesprächsverlauf inszenierten Spannungsbogens vom plötzlichen Tod eines gemeinsamen Freundes zu berichten. Der Malawier Mark Chinomba, seit fünf Jahren mit einem Stipendium in Deutschland, war in seiner Heimat eine Pfarrerstochter und hieß ursprünglich Mary. Er oder sie lebte zuletzt in einem Flüchtlingsheim und wird, Zeugenaussagen zufolge, während Flüchtlingsunruhen von anderen Heimbewohnern vom Dach gestoßen. Lorelle: „Weil er anders war und sie das selbst in diesem Moment der Verzweiflung nicht vergessen konnten. Was spielt das jetzt überhaupt für eine Rolle? Er ist tot.“ (S. 71) Hier geht der Roman auf erstaunliche Weise über einen mutmaßlich aus sexistischer Motivation durch Geflüchtete verübten Mord hinweg. Auch der Ich-Erzähler hakt nicht nach. Unreflektiert wird der plötzliche Tod Marks hingenommen. Die Wut der Protestler richtet sich anscheinend ausschließlich gegen die Polizei, die auch Tränengas gegen Aktivisten einsetzt, um Blockaden aufzulösen. Es bleibt beim Lesen der Zweifel, ob dies eine Ignoranz der Figuren oder des Autors selbst ist.

Bald gerät der anfangs noch privilegiert erscheinende Erzähler selbst in eine persönliche Krise und in ein Flüchtlingslager. Reisen wird aber nicht nur aus der Perspektive dieser Hauptfigur erzählt. Ein Teil des Geschehens in Berlin wird aus der Sicht der Figur Manu wiedergegeben. Manu, ein Arzt, floh mit seiner Familie vor dem Bürgerkrieg in Libyen und arbeitet heute in Berlin als Türsteher. Er versucht, trotz der Beschränkungen integre Zukunftsperspektiven zu gewinnen und lässt Umsicht bei seinen Entscheidungen walten. Er reflektiert Eindrücke von Gesprächen mit anderen Geflüchteten:


„Details haben die Angewohnheit sich aufzuschichten, eine verführerische Lage auf der anderen und man glaubt, einen Menschen zu kennen, bis einem eines Tages bewusst wird, dass dies ein Irrtum ist. Erfundene Geschichten sind die Währung unter den Heimatlosen, den Entwurzelten, werden dargeboten wie ein entwaffnender Händedruck. Schon seit langem will er keine Einzelheiten wissen – er hütet sich vor zu viel Nähe. Sie sind hier, weil sie einen Neuanfang wagen wollen und nicht um die Vergangenheit zu wiederholen und sich an sie zu klammern.“ (S. 87)


Hier ist die Innensicht des Protagonisten weniger oberflächlich gestaltet, als bei anderen Romanfiguren. Leider erscheinen die zahlreichen beschriebenen Flüchtlingsschicksale oft ein bisschen reportagehaft, da Gedanken und Gefühle der Flüchtlinge kaum ausgeführt werden. Auch wenn Helon Habila einige Fäden im Handlungsverlauf gegen Ende wieder aufnimmt, werden die meisten Schicksale nur angerissen. Beschreibungen erscheinen manchmal unstimmig, wenn etwa konsumierte Produkte (S. 85) oder Fernsehserien (S. 273) detailliert erwähnt werden, ohne dass dies zur Atmosphäre oder dem Verlauf des Romans beiträgt. Sagenmotive oder auch Fremdtexte werden eingeflochten, wie Gedichte etwa von John Donne (S. 254). Es gibt einige Tippfehler: „Ein lockenköpfiger, vifer[sic] kleiner Junge“ (S. 256). Schlussendlich bereichert aber auch das eine oder andere lebendige Bild den vielschichtig verwobenen Roman:


„Am Horizont erscheint eine dichte, schwarze Wolke über dem Tannwald, verwandelt sich in einen Vogelsturm, einen beständig die Gestalt wechselnden Starenschwarm, jetzt ein Trichter, eine Woge, dann eine Kugel, eine Sichel, hoch- und niederschwirrend, sich voneinander lösend, sich erneut vereinend, alles blitzschnell und dann war er verschwunden.“ (S. 108)


Ansgar Skoda - 16. März 2021
ID 12816
Verlagslink zum Roman Reisen von Helon Habila


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