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„Das Schreiben entfernt sich mit dem Älterwerden von einem sicher geglaubten Zentrum, einer selbstverständlichen Gelassenheit. Es entfernt sich von der Gedankenlosigkeit. Es wird schärfer, zugleich weniger.“ (Judith Hermann, Wir hätten uns alles gesagt, S. 177)
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Judith Hermann findet in Wir hätten uns alles gesagt schöne Bilder für ihren schriftstellerischen Prozess, bei dem es oft auch darum geht, Details zu verschweigen. Sie spricht von ihrem grundsätzlichen Misstrauen als Autorin mit einem möglicherweise verschatteten Bewusstsein während der Schreibphasen. Es sind ihre drei Poetikvorlesungen, die sie im Mai 2022 in Frankfurt hielt, welche die Bestseller-Autorin hier als Band veröffentlicht. Die 52-Jährige zeigt sich erfüllt vom Nachleuchten und Glühen der gesetzten Worte und gibt Lektüreerlebnisse wieder, „...Geschichten der anderen, die ich lese, um aus ihnen heraus auf meine eigene Stimme zu kommen…“ (S. 146) Wenn sie von Archiven des Gedächtnisses oder Traumbildern spricht, veranschaulicht sie, dass es Uneindeutigkeiten und Leerstellen braucht, die Erzähler und ihre Lesende aushalten müssten.
Die mehrfach preisgekrönte Schriftstellerin stellt in ihren Vorlesungen Freunde oder Angehörige in den Mittelpunkt, die ihr Schreiben beeinflusst und inspiriert haben. Ihr stark depressiver Vater, der später lange in der Psychiatrie lebte, erzählte ihr als Kind erfundene Geschichten, womit er versuchte, grausame Wahrheiten zu umgehen. Diese Selbstbezogenheit glaubt Hermann während ihrer Schreibprozesse an sich selbst wiederzuentdecken:
„Er dachte sich eine Geschichte aus, die an dem, was stattfand, genau vorüberging, exakt und genau daran vorbei. Eine hässliche Geschichte und dennoch, oder gerade deshalb: Er beabsichtigte etwas, das nur weniger mit mir, als vielmehr mit ihm und seinem toten Vater zu tun hatte. Und etwas von dieser egozentrischen Absicht entdecke ich in mir wieder, wenn ich an den Moment denke, in dem ich eine Geschichte zu schreiben beginne – ein beinahe vollkommenes Alleinesein.“ (S. 89)
Das Verschweigen prägte Hermann als Kind. Sie zeigt sich bestürzt darüber, dass ihr früh verstorbener Großvater bei der Totenkopf-SS diente und ist traurig, dass es scheinbar nicht möglich war, in der Familie darüber zu sprechen: „drei Generationen, zwei Kriege und das totale Schweigen“. (S. 94) Symptomatisch für diese Einsamkeit, in der Hermann groß wird, ist auch, dass ihre Eltern bald alleine in einem Straßenzug leben, der 2003 von einem Investor aufgekauft wurde:
„Drei Jahre lang waren sie die letzten Mieter in einem Haus, in dem es mit Vorderhaus, Seitenflügel, Quergebäude vierzig Wohnungen gab, von denen also neununddreißig leerstanden.“ (S. 108)
Hermann plaudert insbesondere im letzten Kapitel ein bisschen aus dem familiären Nähkästchen (S. 169ff.). So wird sie von ihrem Vater zu Unrecht für eine Entscheidung ihrer deutlich jüngeren Zwillingsgeschwister gerügt. Diese befragen zu großen Lebensentscheidungen, wie einem günstigsten Datum ihrer Doppel-Hochzeit, eine Wahrsagerin und nehmen die Antworten für bare Münze. Den abgedruckten Namen der Wahrsagerin „Mona Astra“ (S. 172) findet man jedoch in Suchmaschinen ebenso wenig, wie den genannten Namen des Psychoanalytikers, Dr. Dreehüs (S. 7ff.), dessen reales Vorbild Zeh über einen langen Zeitraum regelmäßig besucht und der auch in ihrem Band eine Rolle spielt. Aus dem Literaturbetrieb nennt Hermann jedoch das Literarische Colloquium Berlin (LCB), in dem ihr Katja Lange-Müller (S. 99), die 2016 selbst die Frankfurter Poetikvorlesungen hielt, wohlmeinende Tipps gibt. Außerdem erwähnt Hermann ihren Lektor, der ehemalige Fischer-VerlagsleiterJörg Bong (pseudonymer Autor der erfolgreichen Georges Dupin-Krimireihe ), bei dem sie Januar 2020 eine Woche krank in der Bretagne im Gästezimmerbett verbringt (S. 159).
Der eindrückliche Band gibt vor allem Einblick in Details, die Judith Hermann während des oft langwierigen Schreibprozesses wichtig sind. Neben den ersten Satz für ein Prosa-Werk oder ein Kapitel ist das heute – anders als 1997 zu Beginn ihrer Karriere – insbesondere das offene Ende (auch S. 150) möglicher Erzählungen. Hierzu ein abschließendes Zitat:
„Ich kann leichter über dieses und jenes schreiben, wenn es zu Ende gegangen ist, wenn ich weiß, dass es zu Ende gehen wird. Final meint nicht, dass die Dinge gut sind, wie sie sind. Es meint nur, dass sie irgendwie an ein Ende gelangt sind, an dem sie sich neu finden, wieder von vorne anfangen müssen. In »Sommerhaus, später« habe ich geschrieben, Glück sei immer der Moment davor. Heute würde ich schreiben, Glück ist immer der Moment danach – der Moment, in dem du das vermeintliche Glück überstanden hast, mit heiler Haut davongekommen bist, Glück als solches erkannt und wieder verloren, losgelassen und verworfen hast...“ (S. 126)
Ansgar Skoda - 1. Mai 2023 ID 14170
S. Fischer-Link zum Buch von
Judith Hermann
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