"...mit mehr
Glee als Glanz
und Glorie"
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Bewertung:
Das englische „Glee“ bedeutet soviel wie Fröhlichkeit und Freude. Die Musikerin Judith Holofernes widmet sich dem Songwriting und Performances mit einer enthusiastischen „Vision von Voodoo und Wärme und Wumms“. Die heute 46-Jährige schreibt in ihrer im Herbst 2022 veröffentlichten Autobiografie Die Träume anderer Leute nun offen und authentisch über Wehmut, die Schattenseiten des Musikbusiness, eigene Schwächen, Krisen, Ängste und Unsicherheiten. In den Jahren 2000 bis 2012 schuf sie als Leadsängerin, Texterin und Frontfrau des Berlin-Hamburger Quartetts Wir sind Helden mit vier erfolgreichen Alben Musikgeschichte. Sie ist mit dem Schlagzeuger der Helden-Band, Pola Roy, verheiratet und hat mit ihm zwei Kinder, die 2006 und 2009 geboren wurden. Nachdem die Band 2012 bekannt gab zu pausieren, sammelte die Künstlerin in der Schaffenspause neue kreative Ideen und wog das Für und Wieder für Solo-Pläne ab:
„Hatte ich nur Angst, dass mich keiner haben wollen würde ohne die Jungs in der Band? Ohne die Männer, die mich abmildern konnten in meiner Hirnigkeit, meiner zu ernsten Ernsthaftigkeit, der zu albernen Albernheit? Alleine, ohne Blitzableiter, ohne irgendjemanden, der davon ablenken konnte, dass ich doch, am Ende des Tages, ein Mädchen war, ein kopfiges, uncooles Mädchen?“ (S. 115)
Sie scharte neue Bandmitglieder um sich und ließ sich u.a. von der Schweizer Band Mama Rosin oder dem färöischer Liedermacher Teitur Lassen zu neuen Songs inspirieren. Holofernes veröffentlichte schließlich als Solokünstlerin zwei Musikalben, auf denen sie nun selbst auch einen Großteil der Musik verantwortet, Ein leichtes Schwert (2014) und Ich bin das Chaos (2017). Bei Wir sind Helden war Keyboarder Jean-Michel Tourette oft hauptverantwortlich für die Komposition der Instrumentalteile. Sowohl die künstlerisch ambitionierten Soloalben, als auch die Touren waren kommerziell weniger erfolgreich als erhofft, eine Tour mit Ein leichtes Schwert verursachte sogar neunzehntausend Euro Verlust, wie sie in der Autobiografie verrät (S. 231). Insbesondere ihre mädchenhafte Stimme, ein Markenzeichen auch der Helden-Songs, macht ihr in den Vierzigern vermehrt zu schaffen:
„Meine Stimme war von Anfang an ein zartes Pflänzchen, und meine Allergien, das Asthma und die vielen Infekte waren eine ständige Anfechtung, dazu gesellte sich etwas, das der erste Stimmarzt als Hyperfunktionelle Dysphonie diagnostizierte. Dabei machen die Stimmbänder generell zu viel und dadurch kommt viel Luft mit durch. Klingt sexy, macht aber sehr anfällig für Heiserkeit. So musste ich früh lernen, mir meine Stimme beharrlich und sanft zur Freundin zu machen.“ (S. 302)
Neben Holofernes brüchigem, mitunter gehauchten Sprechgesang machen ungewöhnlich witzige und ernste Erzählmomente den Charme ihrer Songs aus; eine traurig-melancholische Intimität korreliert mit dem schnoddrigen Verschlucken von Wortendungen. Als Musikerin übt Judith Holofernes in deutschsprachigen Lyrics Kapitalismus- und Gesellschaftskritik. Auch in ihrer Autobioagrafie taucht Holofernes in komplexe Gedanken und Bilderwelten ein. In chronologisch nach Jahreszahlen geordneten Kapiteln kritisiert sie das Musikbusiness und eigene Klischeevorstellungen. Sie schmückt mit witzig-originellen Bildern aus, wie sie oftmals stereotype Interviewfragen von Musikjournalisten langweilen:
„Andere Anfragen hingegen waren schlichter in ihrer Ausrichtung und machten es mir schwer, bei Laune zu bleiben. Ich hatte als wahrheitsliebender Mensch wenig Interesse daran, zu erklären, „wie ich das alles unter einem Hut“ kriegte. Niemand, dachte ich, hat den gleichen Hut auf wie ich. Mein Hut ist ein Einzelstück, und außerdem ist er sehr klein, ein winziger alberner Slash-Zylinder, und ich kriege überhaupt nichts darunter. Noch immer fragte übrigens niemand, jemals, nach Polas Hutgröße.“ (S. 161)
Sie problematisiert, wie ein Schönheitswahn bei jungen Pop-Künstlerinnen zum Erfolg beiträgt und verrät, dass sie sich während der Zeit mit Wir sind Helden regelmäßig mit zwei Fingern über der Toilette (S. 168, S. 180) ertappte. Sie bemängelt das Desinteresse der Musikindustrie an gealterten und durchschnittlich aussehenden Popsängerinnen:
„Womit ich nicht gerechnet hatte, war das Dazwischen, die uneindeutige, demütigend lange Zeit zwischen Fräuleinwunder und Lebenswerk. Denn das ist es, wofür der Pop keine Toleranz hat. Für Frauen, die ein kleines bisschen alt sind und nicht mehr ganz jung. So wie der Pop auch Frauen wie Beth Ditto und Lizzo feiert, als dickes Feigenblatt einer anorektischen Kultur, durchschnittliche mitteldünne Frauen mit runden Schultern und Hüften aber nicht mal mit der Zange anfasst.“ (S. 89)
In schönen Momenten des Werkes ist sie dann auch erstaunlich selbstkritisch, wenn sie die ruhigeren Anfänge nach der Zeit der Tourneen, des Songschreibens und der Promo-Touren mit Wir sind Helden Revue passieren lässt:
„Normales Auto, schöne, aber nachvollziehbare Wohnung, keine extravaganten Hobbys. Nur dämmerte mir langsam, dass ich, im wörtlichen Sinne, nicht wusste, was ein Pfund Butter kostete. Diese Weltfremdheit hatte nur zum Teil mit Geld zu tun, mindestens genauso viel mit der Entmündigung des Tourens, dem Durchgefüttertwerden an Buffets und Raststätten und, wenn wir zuhause waren, einer innigen Beziehung zu Lieferdiensten.“ (S. 75)
Holofernes versucht sich als Solo-Künstlerin von ihrem „ultranahbares Girl-next-door-Image“ (S. 126) zu lösen und erinnert sich an ihr eigenes Schönheitsempfinden: „Mit vierzehn wollte ich Wynona Ryder sein, später Natalie Portman.“ (S. 166f.). In der Autobiografie würdigt Holofernes viele wichtige Wegbegleiter, wie den Manager Walter Holzbaur vom Wintrup Musikverlag, der erst die Band und dann sie als Solokünstlerin beriet und promotete (S. 119). Geradezu erschütternd wird das Werk jedoch, wenn Holofernes Erkrankungen von sich und anderen Bühnenkünstlern thematisiert und über verschleppte Grippen in Tourphasen, Tinnitus und Sehnenentzündungen erzählt. Dabei verdeutlicht sie den Druck, der auf Künstlern lastet, auf der Bühne fit sein zu müssen:
„Wir können es uns schlicht nicht leisten, krank zu sein. Dazu gibt es ein ungesundes Arbeitsethos in der Musikbranche, einen Kult des Raubbaus, der auf der einen Seite, der Business-Seite, Belastbarkeit und Pferdenatur belohnt und auf der anderen Seite, der Rock’n’Roll-Seite, Kaputtsein beziehungsweise Bald-tot-Sein glorifiziert. Die Kombination ist es, die uns verschleißt.“ (S. 221)
Neben Stimmschwankungen und dem Gefühl keine freie und leichte Stimme (S. 379) auf der Bühne forcieren zu können macht Holofernes bald eine Meningitis, eine Entzündung der Hirn- und Rückenmarkshäute, ernsthaft zu schaffen. Als eine Radiologin Holofernes erklärt „so ein Bild macht ansonsten nur ein Krebs im Endstadium“ (S. 342), weiß sie, das ihre Schwächegefühle ernst zu nehmen waren.
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Eine spannende, facettenreiche, erstaunlich uneitle und mit 407 Seiten auch recht umfangreiche Autobiografie, die einen authentischen Eindruck von der Person Holofernes vermittelt, aber auch davon berichtet, wie stimulierend und gleichzeitig auch aufreibend so ein Dasein als Sängerin und mehr oder weniger erfolgreiche Künstlerin im Rampenlicht sein kann. Leider verpasste ich die gegen Ende des Bandes vielfach erwähnte 2018er Fernsehstaffel von Sing meinen Song – Das Tauschkonzert, wo neben Holofernes am dritten Abend in Südafrika u.a. Marian Gold von Alphaville oder Schlagerstar Mary Roos Songs von Holofernes interpretierten. Dafür hatte ich das Glück Wir sind Helden zu Beginn ihrer Karriere 2003 auf dem Ringfest in Köln zu erleben, später besuchte ich 2014 ein Solokonzert von Judith Holofernes im Theaterhaus Stuttgart und sah sie zuletzt 2017 bei einem denkwürdigen Festivalauftritt auf dem A Summer’s Tale in Luhmühlen bei Lüneburg. Eine Künstlerin, von der man gerne bald wieder mehr lesen oder hören möchte.
Ansgar Skoda - 17. Januar 2023 ID 14003
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Judith Holofernes
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