„Nein, so was“
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Bewertung:
Es gibt quälende Romane, die man immer wieder beiseitelegt, weil es ihnen an Nervenkitzel oder Spannungsaufbau fehlt. Katharina Geisers Unter offenem Himmel ist ein solches Werk. Das Geschehen spielt mit wechselnden Frauenfiguren auf mehreren Zeitebenen mit teils 100 Jahren Unterschied. Themen wie Prostitution, Schwangerschaft von Minderjährigen, Spielsucht und Alkoholismus werden gestreift. Erstaunlicherweise führen diese Problemkomplexe kaum zu nennenswerten Konflikten.
Prostitution wird so aus der Perspektive einer Hauptfigur, Elise, als ein gewöhnliches Gewerbe wahrgenommen. Sie findet sich als junge Prostituierte problemlos zurecht. Doch bald verliebt sich ein gutmütiger junger Freier in Elise. Sie erwidert irgendwann seine hartnäckigen Avancen. Beide heiraten. Die familiäre Harmonie zwischen den Großeltern, den Eltern und den Kindern lebt bei der Hochzeit neu auf. Das größte Problem: Elise verdient mit Handarbeiten wie Stricken und Häkeln später weniger. Doch das Leben der Hauptfiguren geht trotz Krankheit und Tod Angehöriger gleichförmig weiter.
Beschriebene Lebenswege erscheinen nett, lieblich und manchmal trivial. Eltern leiten ihre Kinder früh an, Aufgaben im kleinen Familienbetrieb zu übernehmen. Das kindliche Gefühlsempfinden wird sinnlich zelebriert. Zuweilen glaubt man sich in einer Uralt-Ausgabe der Familienzeitschrift Die Gartenlaube (1853–1937). Der behäbige, sich an Banalitäten aufhaltende Erzählstil erinnert etwas an die Fortsetzungsromane der Gartenlaube-Stammautorin Eugenie Marlitt (1825-1887). Auch in die Liebesromane der Gartenlaube flossen Dialekte und Redensarten ein. Auch hier passierte oftmals wenig, obwohl ganze Leben beschrieben wurden.
Mal begeistern sich die Protagonisten in Unter offenem Himmel für ein Nest von Rauchschwalben in der eigenen Wohnung (S. 161 f.). Andere Figuren in einer anderen Zeit sind fasziniert vom Tiefsee-Anglerfisch. Sie führen sich vor Augen, dass bei diesen Tiefseefischen das Männchen mit seinen Organen im Zuge des Geschlechtsakts dem Weibchen auf ewig verbunden bleibt (S. 132f.). Auch sonst verliert sich das Erzählte oftmals in schier beliebig anmutenden Details, so werden gar über mehrere Seiten (S. 265f.) Filmszenen mit Buster Keaton beschrieben. Leise Spannung kommt selten auf; etwa wenn die Gefühle einer jungen Frau beim ersten Rendezvous detailreich beobachtet werden:
„Kaffee wurde bestellt und gebracht. Klara riss eine Ecke der Zuckertüte ab, während ihr der Kaffeeduft in die Nase stieg. Der Zuckerstrahl bildete erst eine weiße Insel und versank dann im Espressoschäumchen. Beim Umrühren nahm eine Spirale Form an. In diesen Sekunden empfand Klara etwas, das ihr bislang unbekannt gewesen war. Es hatte sich zwischen Tischkante und Brust gedrängt, drang in sie, dehnte sich aus, verrückte zielsicher Brustmuskeln, Rippen, Herzkammern, selbst die wie Bratwürste dicken Blutbahnen. Der Kaffee war stark und süß. Das Herz klopfte Klara jetzt in den Ohren. Es pumpte in jedem einzelnen Finger. Die Oberschenkel klebten nicht mehr an der Sitzbank. Zwischen ihren Brüsten rann der Schweiß aufwärts. Ihre Wangen glühten.“ (S. 116f.)
Vielleicht hätte es dem Roman gut getan, das diffuse Gefühlsleben der Figuren ähnlich wie in dieser Szene stärker zu fokussieren. Stattdessen wird in den wechselnden Zeitebenen und Perspektiven gedanklich ein schier beliebiges Potpourrie aufgeboten, das von mittelalterlichen Zitaten des Walther von der Vogelweide bis hin zu altbackenen Werbesprüchen zum Rexona Deo reicht.
Ansgar Skoda - 8. Juli 2021 ID 13024
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Unter offenem Himmel
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