Schwingen der Seele
- eine Ehe in
Briefen
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Bewertung:
Welche Berechtigung haben schlichte Alltäglichkeiten literarisiert zu werden? Lassen sie sich zu fesselnden Romanplots kondensieren? In All unsere Jahre werden detailfreudig und seitenlang die Anschaffung exklusiver Stoffmuster für Vorhänge, die häusliche Gartenarbeit oder Facetten des Meeresblaus beim Blick vom Kreuzfahrtschiff beschrieben. Der Alltag der Hauptprotagonistin Evelyn (Titelheldin in der englischsprachigen Originalausgabe Dear Evelyn, 2018), einer Hausfrau und Mutter, ist schon einmal bestimmt von der Suche nach passenden Bettbezügen, dem Bügeln von Hemden oder dem Erwerb eines schicken Badeanzugs für den Swimming Pool eines Kreuzfahrtdampfers.
Die Autorin Kathy Page bebildert in einer atmosphärisch dichten Chronik den Beginn und schleichenden Verfall einer großen Liebesbeziehung. Mit regelmäßigen Zeitsprüngen erzählt sie das Schicksal eines Ehepaars über 70 Jahre hinweg von der Geburt bis hin zum Tod. Sie findet erstaunlich präzise Bilder für Vertrauensbrüche. Die heute 62jährige britisch-kanadische Schriftstellerin erhielt u.a. 2018 den kanadischen Roger Writers Trust Fiction Prize für ihren autofiktionalen historischen Liebesroman. Page unterrichtet selbst als Professorin Creative Writing an der Vancouver Island University. Beatrice Faßbender besorgte ganz souverän die bisher erste Übersetzung der Autorin ins Deutsche. Den Bucheinband schmückt formschön ein Ausschnitt der Gartenfresken in der antiken Villa Livia, Primaporte, in Rom.
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Der Roman schildert detailliert die Komplexität einer Beziehung, in der sich der Mann Harry mit seinen Bedürfnissen meist seiner Frau Evelyn bedingungslos unterordnet. Lebensempfindungen werden literarisch verdichtet und subtil kondensiert. All unsere Jahre beginnt im gemächlichen Erzählfluss mit anrührenden Schilderungen der entbehrungsreichen Jahre während des Zweiten Weltkrieges in England. Harry dient an der Front, während Evelyn das erste Kind großzieht. Beide schreiben sich regelmäßig Briefe und heiraten in Kriegszeiten. Nach der Zeit des Elends und der Verluste versucht Harry für seine Ehefrau und seine drei Töchter ein besseres Leben aufzubauen.
Alsbald prallt die Tragik zweier unterschiedlicher Lebensentwürfe aufeinander. Evelyn erweist sich als stets unzufriedene Ehegattin. Narzisstisch glaubt sie sich über jede Kritik erhaben und bringt Harry mit ihrer Gereiztheit oftmals in Bedrängnis. Harry liebt sie trotzdem weiterhin bedingungslos. Für seine Töchter ist er so jedoch nur ein schwacher Vater. Er vermag sich gegen Evelyns Kontrollsucht nicht durchzusetzen. Evelyn kann es scheinbar auch nicht ertragen, die Liebe Harrys mit den Töchtern zu teilen. Alle Töchter ziehen früh von Zuhause aus und weit weg.
Der kunstvoll geschriebene Roman widmet sich insgesamt einem recht konventionellen und unspektakulären Eheleben. Es gibt viele selbstbezogene Mütter, die keine eigenen beruflichen Ambitionen umsetzen konnten und im häuslichen Alltag den Vater dominierten. Die Gründe, warum Evelyn sich im Alter nicht alleine um Harrys Gebrechlichkeit zu kümmern vermochte, werden im letzten Teil des Buches leider nicht eingehend genug beleuchtet. Kathy Page war inspiriert von im Roman teils wörtlich zitierten Briefen ihres Vaters an ihre Mutter, so heißt es im Nachwort. Die Autorin hat jedenfalls all ihre Sympathien bei Harry. Vielleicht wollte Page bewusst auf ihren Vater schauen, weil sich die Mutter immer in den Mittelpunkt gestellt hat? Während Evelyns Blick oftmals oberflächlich und spießig ist, entwickelte Harry zu Romanbeginn schon als Kind ein Gefühl für Lyrik. Er genießt einen poetisch-versöhnlichen Blick auf die Welt. Für ihn ist es stets das größte Glück, über seine Frau in all ihren Facetten sinnieren zu können:
„Ohne das verwirrende Glühen der Jugend schien ihr Hunger nach Leben größer und verzweifelter, und auch primitiver, weniger charmant und immer mächtiger; je deutlicher sie den Druck der Sterblichkeit spürte, desto entschiedener stemmte sich die Lebenskraft in ihr, ihr Ego, oder wie immer man es nennen wollte, dagegen. Das war Evelyn: stark, hungrig, eigensinnig, schön, manchmal barsch – vollkommen außergewöhnlich. Die Frau, die er vor fast vierzig Jahren auf den Stufen der Bibliothek kennengelernt hatte, hatte sich nur graduell verändert. Er hatte sie erwählt, immer wieder, bis heute. Was Liebe war, hatte sich insofern verändert, als er sie nicht mehr verstand, obwohl er ihre Ausmaße und Tiefen kannte und wusste, dass sie ihn zum größten Teil ausmachte.“ (S. 235)
Ansgar Skoda - 9. November 2020 ID 12590
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