Mythische
Entgrenzungen
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Bewertung:
„Nach und nach teilte sich das Leuchten allen Dingen mit, Alleen, Kanäle, Autos, Erntemaschinen, Häuser, alles glühte, von den Strahlen des riesigen feurigen Himmelskörpers berührt, in übernatürlichem Licht. Die abgeernteten Felder, die sich in der Ebene ausbreiteten, wurden tiefschwarz, und während die Sonne immer schneller abwärts glitt, krochen Schatten von unten in die Höhe, erstickten, verdrängten, überwältigten das Licht. In der Dämmerung wallte Nebel auf und erfüllte, vom Fluss kommend, die Ebene.“
(Susanne Röckel, Kentauren im Stadtpark, S. 132)
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In der flirrend gleißenden Po-Ebene in Italien tritt ein einsamer Wanderer in ein wachsendes Dunkel. Er erlebt die einhergehende Veränderung der eigenen Sicht. Unvermittelt macht er sich die Begegnung mit einem rätselhaften Vogel mit großen Flügeln bewusst - ein Verweis auf den düster-beeindruckenden Roman Der Vogelgott (2018). Bereits hier trieb Susanne Röckel Stimmungen des Unheimlichen voran. Sie schaffte es mit ihrem phantastischen Schauerroman auf die Shortlist für den deutschen Buchpreis.
Die Münchner Autorin und Übersetzerin verwebt nun in ihrem vielschichtigen Erzählband Kentauren im Stadtpark (2019) Motive alter Sagen in moderne Lebenswelten. Schon im Titel des Erzählbandes schwingt eine Spannung zwischen dem seltsamen, erotisch-konnotierten Mischwesen aus Pferd und Mensch und dem gewöhnlich-banalen Stadtpark mit. Jahrtausende alte Mythen der griechischen Antike um Herakles, die Sirenen oder Daphne und Apoll werden kunstvoll variiert und subtil neu erzählt. Röckels Protagonisten erkennen in Ausnahmesituationen, dass es mehr im Leben gibt, als sie erwartet hätten:
„Das Gefühl, etwas Unzulässiges zu tun und dennoch nicht damit aufhören zu können, lähmte ihn. Er hatte eine Grenze überschritten, die ein Mensch nicht überschreiten durfte. Warum war er hergekommen? Schwäche übermannte ihn, Hilflosigkeit.“ (S. 149)
Die erste Erzählung Das Geschenk des Nessos handelt von einem vergifteten Kleidungsstück: Ein Hemd mit dem Blut des Kentauren Nessos brachte dem Helden Herakles der Sage nach den Tod. Röckels Heldin Tabea erinnert sich, dass sie vor vielen Jahren auf ihrer Hochzeitsreise in Abwesenheit ihres Mannes in Indonesien vergewaltigt wurde. Sie behielt das schmutzige und stinkende Hemd des Täters. Ihr notorisch untreuer Mann, ein bedeutender Ökologieprofessor, wird in einem Brief an Tabea „ein Herkules“ genannt. Er weilt bald mit einer neuen Frauenbekanntschaft wieder in Indonesien. Die Erzählerin erinnert sich an das Hemd und trifft eine folgenschwere Entscheidung.
In der zweiten Erzählung Sirenen verarbeitet ein Gymnasiallehrer seine Trauer nach dem Krebstod seiner Frau. Schuldgefühle belasten ihn, von denen er erst an ungewohnten Orten stückchenweise loskommt. In der dritten Erzählung Daphne und Apoll begegnet die attraktive und unverheiratete Theologin Uta auf ihrer Arbeit dem seltsamen, jungen Flüchtling Tarik. Sie ist fasziniert und nennt ihn „einen Apoll“. Als dieser sich dann auch für sie zu interessieren beginnt verliert sie die Contenance. Sie reagiert irritiert, ratlos und unberechenbar.
Es sind archaische Bilder, in denen Röckel die griechische Götterwelt anschaulich im urbanen Jetzt verortet. Die Figuren durchschreiten etwas Bedrohliches, das zugleich auch eine Verheißung birgt. Die Liebe und Kraft des Rätselhaften lässt sie irrational werden. Sie genießen es, wenn in unheimlichen Entgrenzungen Verlorengeglaubtes wieder aufzutauchen droht:
„Und auf einmal erhoben sich Stimmen: Vögel pfiffen und sangen, Frösche quakten, und dann ertönten weitere, rätselhaft miteinander verwobene Rufe, zirpend, girrend, keckernd, knurrend, die er mit keinem Wort zutreffend beschreiben und keinem bekannten Lebewesen zuordnen konnte. Waren es überhaupt verschiedene Lautäußerungen, fragte er sich, nachdem er den sonderbaren Klängen lange – unendlich lang – gelauscht hatte, unfähig zu klarem Denken und Urteilen -, hörte er nicht vielmehr nur eine einzige körperlos-wogende Stimme, die durch das Zusammenströmen geheimnisvoller Stoffe oder Sphären zustandekam, eine schwebende Melodie, aus einer selbstgenügsamen, zeitlosen Dämmerung aufsteigend? Die Stimme lockte ihn, erfasste ihn, durchdrang jede Faser seines Körpers, während das Gefühl einer ungreifbaren Gefahr bestehen blieb. “ (S. 101 f.)
Ansgar Skoda - 3. Januar 2020 ID 11913
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Kentauren im Stadtpark
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