Schritt für
Schritt dem
Grusel
entgegen
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Bewertung:
Schauerlich und unheimlich sind die Geschichten, in deren Szenerie uns der Herausgeber entführt. Der namensgebende Text Montezuma, wie sollte es anders sein, spielt in Mexiko. Der Name Montezuma ist wohl am ehesten bekannt durch seine gefürchtete Rache, doch um den scheußlichen Durchfall geht es hier nicht, obwohl auch er zum Horror beitragen kann. Stattdessen berichtet ein Ingenieur, der eine Bahnstrecke von Xiqipu ins Gebirge realisieren soll, über eine Eisenbahnlok. Montezuma hat einen eigenwilligen Charakter entwickelt und wird zur unberechenbaren Gefahr für Mensch und Tier, wenn das Monstrum selbstständig seine Fahrten unternimmt.
"Der 'Montezuma' kam näher, argwöhnisch, zögernd, aber er kam. Jetzt befand er sich noch 20 Meter vor der Mine entfernt – jetzt noch 15 – jetzt noch 10… Er kroch wie eine Schnecke! Die Sekunden dehnten sich zu Stunden – jetzt war er über dem Pulverfass. – Wenn das ihm nicht den Garaus macht, soll er auch das zweite haben – also Feuer!
Als der Rauch und der aufgewirbelte Staub sich verzogen, sahen wir das Ungeheuer in höchster Eile den Bergen zujagen. Es war mir zum zweiten Mal entschlüpft." (S. 170)
Friedrich Meister schafft es in der 1891 veröffentlichten Geschichte, der Maschine eine obskure Persönlichkeit zu verleihen. Das Monster versprüht Angst und Schrecken und scheint sogar heute noch seine Spuren im hintersten Mexiko zu hinterlassen.
In Sulitelma gelingt es Karl Heinrich Ulrichs eine Szenerie zwischen Wolken und Meer zu konstruieren, die mir noch längere Zeit im Kopf herumschwirrt. Die Mannschaft des in diesem Zwischenreich segelnden Sturmschiffs aus "stählernem Eis" besteht aus einer Kreuzung aus normalen Menschen und Kältewesen, die kristalline Eispanzer zum Leben brauchen. Diese absonderlichen Geschöpfe sind ausgesprochen gefühlsbetont, und so kommt es zu einer bizarren Liebesgeschichte zwischen einem Matrosen und einer jungen Erdenbürgerin, die jedoch in den schroffen Winden zu einer selbstsüchtigen Rächerin mutiert.
In Der verkaufte Appetit von Paul Lafargue (Schwiegersohn von Karl Marx) werden Hunger, Verdauung und alles, was damit zusammenhängt, an den Mann gebracht, und dies wird plausibel und sehr drastisch geschildert. Bei E. M. Vacanos Dr. Smallbones und seine lebendigen Leichen entreißt ein dubioser Mediziner einem Sterbenden seine letzten Empfindungen, während der sein Leben aushaucht.
Auch die anderen Geschichten schüren den Schauer, und für mich war es eine Freude, die Fantasien dieser heute bis auf Arthur Conan Doyle weitgehend unbekannten Autoren (eine Frau ist leider nicht vertreten) zu verfolgen.
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Wer sich mit dem Genre Phantastik näher beschäftigen möchte, ist mit dieser Anthologie gut beraten. Lars Dangel präsentiert mit seiner Auswahl der neunzehn Geschichten, die im Zeitraum zwischen 1836 und 1948 erschienen sind, wahre Perlen der phantastischen Literatur. Zugleich liefert er eine profunde Einordnung der Autoren und Hintergründe und konnte zudem überraschende Neuigkeiten ans Licht fördern. So basiert der Fall in den Mahlstrom von Edgar Allan Poe vermutlich nicht auf der Idee des berühmten Literaten, sondern eine Geschichte dazu erschien bereits früher, nämlich 1836 anonym unter dem Titel Der Maelstrom. Ein Seestück.
Die Recherchen, auf die das Buch zurückgeht, sind aufwendig. Lars Dangel zieht für den herkömmlichen Leser eher unbekannte Zeitschriften, Privat- und Sonderdrucke heran. So belegen u.a. Der Oestreichische Zuschauer Nr. 73, Wien 1836 und die Münchener-Lesefrüchte unterhaltenden und belehrenden Inhalts 1836 die Publikation von X, dem ungelösten Pseudonym. Allein die Titel der Quellen sind Zeugen einer anderen Zeit, einer Zeit, in der phantastische Literatur eine weitaus bedeutendere Rolle spielte, als dies heute der Fall ist. So machen sich Herausgeber, Verleger und Illustrator zum Anwalt dieses Genre, wenn das Buch ohne kommerziellen Hintergrund auf den Markt gebracht wird. Auch die aufwendige Gestaltung des Bandes unterstreicht diese Absicht. Lediglich die farbigen Illustrationen der Geschichten sind mir teilweise zu konkret geraten und lassen mir zu wenig Raum für eigene Fantasie, die doch durch die Geschichten stark befeuert wird.
Des Weiteren sind in der Anthologie vertreten: Roland Betsch, Willy Seidel, J. C. Kreibig, Ernst Warlitz, Kurt Münzer, Walter Küster, László Rózsa, Hans Watzlik, Erich Anzelewsky, Leo am Bruhl, Paul Hansen, Karl Heinrich Ulrichs, W. W. Jacobs und Hermann Dreßler.
Ellen Norten - 9. April 2022 ID 13569
https://dunkelgestirn.jimdofree.com/
Post an Dr. Ellen Norten
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