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nachDRUCK # 2

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Roman

Viel offener

als sonst





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„Ich war nicht tot, aber zu sehr Seele. Ich hatte mich zu sehr von Musik und Poesie leiten lassen, und mein derart beseelter Geist hatte begonnen, sich als vollständige Person wahrzunehmen. Ihm war gar nicht klar, wie deformiert er war. Jetzt suchten sie mich draußen im Garten. Während andere Menschen die Dinge in Einklang zu bringen wussten, rannte ich ewig zwischen Gegensätzen hin und her, war nie hier, aber auch nicht da.“ (Miranda July, Auf allen vieren, S. 177)

*

Grundsätzliche Lebensfragen, existenzielle Energien – alles gerät ins Wanken – wenn sich die Ich-Erzählerin die Frage stellt, ob die physische Liebe der spirituellen unterliegen kann. Ein Bilderreigen voller Sprachwitz und Lakonie bricht sich Bahn...

Miranda Julys zweiter Roman Auf allen vieren - nach Der erste fiese Typ (2015) - sprüht nur so von kolossalen Einfällen:


„Ein Mensch mit einer experimentierfreudigen, wanderlustigen Seele sollte ein Leben führen, das ihr gerecht wird.“ (S. 267)


Die Heldin der Geschichte, eine 45-jährige erfolgreiche Künstlerin, Schriftstellerin und Mutter eines Sohnes, gerät in eine Midlife-Crisis. Um abzuschalten und als zweiwöchiger Kurzurlaub von der Kleinfamilie unternimmt die namenlos bleibende Protagonistin eine Reise von der Westküste der USA nach New York. Die Erzählerin lässt sich treiben:


„Die Zukunft selbst war eine weitere Geliebte, die rückwärts durch die Zeit ihre Hand ausstreckte und meine Eier umfasste. Ich hing nicht im luftleeren Raum der Gegenwart, sondern wurde sicher gehalten; ich wurde sanft umarmt und erregt von meinen nie endenden Vorbereitungen.“ (S. 340)


Die Ich-Erzählerin strandet nach nur wenigen Kilometern in der Kleinstadt Monrovia in Kalifornien, wo sie an einer Tankstelle intensiven Blickkontakt mit Davey hat. Sie trifft den 14 Jahre jüngeren Mann bald wieder und es ergibt sich ein Gespräch mit dem schneidigen Mann, Angestellter bei einer Autovermietung. Ein möglicher Kontrollverlust über das eigene Leben wird gedanklich und in Gesprächen in verschiedenen Variationen durchgespielt. Sie erzählt ihrer besten Freundin Jordi von ihrem intensiven Gefühlserleben nach der Begegnung mit Davey. Jordi nimmt neue Facetten an ihrer Freundin wahr und teilt das der überraschten Erzählerin mit:


„'Ja, deine Stimme, viel offener als sonst.'
'Offen, offen, offen', sagte ich und versuchte, den Klang meiner Stimme zu hören. 'Test, Test.' Ich fragte sie, ob sie mich verurteile, und sie sagte, Wie könnte ich? Wofür denn? Es ist mutig, so viel zu empfinden.“
(S. 127)



Ideenreich choreographiert bezieht die Erzählerin bald weitere Freundinnen mit ein, wobei sie für ihren Gesprächskreis eine witzige Analogie zum Open Source-System in der Webentwicklung setzt. Schon bald merkt sie, dass die meisten ihrer Freundinnen weniger mutig sind als sie:


„Es fühlte sich an, als hätten wir abgemacht, alle zusammen in das Haus zu schleichen, in dem es spukte, nur dass ich mich irgendwann, nachdem ich es kichernd und mit klopfendem Herzen getan hatte, umdrehte und sah, dass ich allein war – die anderen hatten doch zu viel Schiss gehabt.“ (S. 356)


Alltagsnah und erheiternd wird ein möglicher Bruch im Lebensweg der Protagonistin herausgearbeitet, bei dem alles möglich scheint:


„...es war, als würden wir ein hauchzartes Spinnennetz weben, während wir uns in Relation zueinander durch den Raum bewegten.“ (S. 333)


July spielt auf originelle Weise mit autofiktionalen Analogien, so steht die US-Amerikanerin selbst im Alter von 50 Jahren in der Lebensmitte und ist eine prominente Künstlerin. Die Heldin ihrer Geschichte erhielt einen Blinken-Preis (S. 228). Auch die Multimedia-Künstlerin July hat in verschiedenen Kulturgenres erfolgreich debütiert, mit Prosa, Filmen und Musik. Sie erhielt 2007 den Frank O’Connor-Preis, den höchstdotierten Kurzgeschichtenpreis der Welt, für Zehn Wahrheiten. 2020 erschien ihr dritter Kinofilm Kajillionaire.

Harris, der Mann der Ich-Erzählerin ist im Roman Musikproduzent, July selbst ist mit einem bekannten Filmregisseur verheiratet, Mike Mills. Auch July und Mills haben ein Kind, das heute zwölf Jahre alt ist. Oft werden die Leser auf falsche Fährten gelockt, so leben Harris und die Erzählerin in getrennten Zimmern (S. 233), trotzdem begegnen sie sich im Roman mitunter auf tröstliche Weise sehr zärtlich. Sie träumen sogar die gleichen Träume:


„Ich war ziemlich gut darin, andere in meinen Kopf zu locken, aber letztendlich wollte niemand dort bleiben.“ (S. 368)


Witzig ist auch die Idee, das gemeinsame Kind im Roman durchgehend mit geschlechtsneutralen Pronomen zu belegen und dies jedoch erst recht spät erkennen zu lassen:


„Sam ist nonbinär. Geschlechtsneutrale Pronomen, dey/ demm.“ (S. 315)


Zufälle, überraschende Wendungen und Ideen halten den Leser in Atem:


„Ich hatte die Aufgabe, die ganze Tragweite dessen, was das Leben von uns verlangte, völlig missverstanden.“ (S. 368f.)


Mit Auf allen vieren gelingt Miranda July ein zarter, literarisch agiler und wendiger Roman voller Anziehungskraft. Beglückend und betörend weiß July in einem unter die Haut gehenden Gefühlsrausch zwischen Euphorie und Verzweiflung zu tänzeln. Einfallsreich spricht die Künstlerin in ihrem zweiten Roman den Lachnerv an, etwa wenn ihre Ich-Erzählerin jedwede sportliche Ambitionen von sich weißt:


„Was Fitness anging, hatte ich noch nie mehr gemacht, als eine Zehnerkarte für Yoga zu kaufen und zweimal hinzugehen. Ich war so schwach, dass ich manchmal schon beim Zähneputzen einen müden Arm bekam. Ich nickte, statt zu winken – Hände sind schwer! Es will nur niemand zugeben! Und Köpfe erst. Einfach bloß den Apparat aufrecht halten, war schon viel. Ich lehnte mich eigentlich fast immer an irgendetwas an, teilte mir die Last mit einem Tresen oder Türrahmen. Mit mir war in soweit alles in Ordnung, nur schien mir Sport eine zu große Investition in einen vergänglichen Körper zu sein.“ (S. 223)


Ansgar Skoda - 27. Oktober 2024
ID 14984
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