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Erzählungen

Hinter der Angst





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„Ich kann nicht Leben, also schreibe ich. Obwohl ich das Schreiben hasse, weil es Ausdruck meines Nichtlebens ist, und obwohl ich weiß, dass es für das, was ich zu sagen habe, keine Worte gibt. Die Angst ist das Formlose an sich und wäre nicht Angst, wenn es sich formen ließe.“ (Natascha Wodin, Der Fluss und das Meer, S. 185)

*

In ihrem autobiographisch grundierten Erzählband Der Fluss und das Meer zeigt sich die mehrfach ausgezeichnete Schriftstellerin Natascha Wodin als nahbar, innovativ und eigensinnig. Das 190-seitige Werk erzählt von Annäherungen und Einsamkeit, Ängsten, Beobachtungen und Erinnerungen. Dabei deutet Wodin ihre produzierte Papierhalde stets auch als ungelebtes Leben.

Der Band enthält vier neu überarbeitete Erzählungen, die 2001 bis 2023 jeweils in Erzählbänden, Zeitschriften oder Zeitungen erschienen. Die fünfte Erzählung Les Sables-d’Olonne, die erstmals in dem Band veröffentlicht wurde, ist zugleich auch die längste und eingebettet in eine Rahmenhandlung.

Hier klingt Wodins schwierige Beziehung zum Vater an, die auch Thema ihres Romans Irgendwo in diesem Dunkel (2018) war. Wodin nimmt ihm übel, dass er den frühen Freitod ihrer Mutter ihren Erinnerungen gemäß verdrängen wollte:


„Die Erinnerung an alles Vergangene war so vollkommen aus seinen Gesichtszügen getilgt, dass mir meine eigene Erinnerung vorkam wie eine Lüge, wie ein Hirngespinst.“ (S. 165)


In langen Sätze schwelgt Wodin in Les Sables-d’Olonne auch in einer zärtlichen Sehnsucht nach dem Meer (S. 168). In einer Art Binnenerzählung bewegt sie sich in einer Einsiedelei auf dem Dorfe und denkt hier auch über ihr intimes Verhältnis zu einem Psychotherapeuten nach.

Die erste Erzählung ist auch die Titelgeschichte des Bandes und zugleich die kürzeste Geschichte. Hier bezieht sich Wodin auf die Liebe ihrer Mutter zum Asowschen Meer. Wodin hebt hervor, dass Mariupol, die Heimat ihrer Mutter, dreifach zerstört wurde. Erst durch Revolution und Bürgerkrieg, dann durch die deutsche Wehrmacht, zuletzt durch den Russischen Angriffskrieg Putins:


„Die Geschichte wiederholt sich, sie bewegt sich nicht linear, sondern dreht sich im Kreis.“ (S. 14)


Der Herkunftsort ihrer Mutter, Mariupol, inspirierte Wodin auch zum Sujet ihres wohl bekanntesten Romans Sie kam aus Mariupol, für den sie 2017 den Preis der Leipziger Buchmesse zuerkannt bekam.

In der zweiten Erzählung des Bandes, Nachbarinnen, erinnert sich Wodin an die Zeit ihrer jungen Ehe, als sie mit Neunzehn ihren ersten Mann geheiratet hatte. Als sie mit diesem zusammen in einer Wohnung lebte, hatte sie eine ungewöhnliche Nachbarin, die zusehends verwahrloste und sich antisozial verhielt, was auch die Ich-Erzählerin zunehmend mit eigenen Ängsten konfrontiert (S. 25). In Das Singen der Fische lässt Wodin lebendig einen Aufenthalt in Sri Lanka als junge Frau mit allen Unannehmlichkeiten aufgrund der anderen Konventionen und Klimaverhältnisse Revue passieren.

Die wohl spannendste Erzählung des Bandes ist Notturno, in der Wodin über die intensive Brieffreundschaft mit einem ihr nicht persönlich bekannten Mann, Heiner Fuchs, schreibt. Den Briefkontakt hat ihr eine ihrer Freundinnen, Jutta, vermittelt, die sich für Bedürftige einsetzt. Wenn die Ich-Erzählerin, Natascha, sich mit Heiner über intime Dinge wie den Musikgeschmack intensiv austauscht, geht sie stets auch mit sich selbst und den eigenen Hoffnungen ins Gericht:


„Ausgerechnet er sollte mich retten vor meiner Einsamkeit, vor der Brutalität eines einsamen, hoffnungslosen Alters, vor einem einsamen, qualvollen Tod.“ (S. 68)


Fuchs ist unverheiratet. Sie deutet ihn, der nach einer schweren Schlafmittelvergiftung in der geschlossenen Abteilung einer Psychiatrie lebt, als Schwächsten unter den Schwachen. Er litt bereits vor seinem Psychiatrie-Aufenthalt unter Depressionen. In der Ich-Erzählerin erwachen enorme Beschützerinstinkte, aber auch gleichzeitig eine erstaunlich verehrende Bewunderung:


„Er besaß nichts, ein völlig entrechteter, enteigneter Mensch, dem nicht einmal mehr das eigene Leben gehörte, aber ihm gehörte die Musik, er war der Millionär der Musik, ihr geheimer Gebieter, ihr Herr und ihr Resonanzgefäß. Ein Geschenk von Jutta an mich, der Sammlerin verlorener Existenzen.“ (S. 65)


Sie liest zwischen den Zeilen erhaltener Briefe und interpretiert auch mal eine „innere Spannung“ (S. 72).

Wodin denkt hier schlussendlich auf einfühlsam faszinierende Weise über die eigene Existenz und das fragile Band zwischen Menschen nach. Gleichzeitig gewahrt sie eine „letzte Musik vor der ewigen Stille“ (S. 77) und lässt vermeintliche Selbstverständlichkeiten in einer neuen Perspektive zerbrechlich erscheinen:


„In einer Welt, in der die Menschen auf jede Entfernung in Sekundenschnelle Nachrichten über ihre Computer und Handys austauschten, waren wir, da Heiner außer seinem kleinen Weltempfänger über keinerlei Kommunikationsgeräte verfügte, auf das fragile Pflichtgefühl einer Postbotin angewiesen, das letzte Rädchen einer gigantischen Maschinerie, die rund um die Uhr für die Verteilung und Zustellung von etwa einer Million Briefe täglich zuständig war. Heiner musste seine Briefe an der Poststelle der Klinik abgeben, ich musste die meinen mit dem Auto zum nächstgelegenen Ort bringen und dort in einen Briefkasten einwerfen. An der Beförderung und Bearbeitung dieser zwei kleinen Briefe waren Lkw und Güterzüge beteiligt, Großcontainer, Briefzentren, Förderbänder, Entladeroboter, Zustellstützpunkte, Sortieranlagen, Kodiermaschinen, schließlich die Taschen, Behälter und Fahrzeuge der Zusteller – von all dem war der Kontakt zwischen uns abhängig, von tausend kleinen Unwägbarkeiten, mit denen unsere Verbindung von Tag zu Tag stand und fiel.“ (S. 61)


Ansgar Skoda - 6. Juli 2024
ID 14826
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