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Roman

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bis zur

Rammdösigkeit





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„...eine müßig in den Raum gestellte Frage zur Nachmittagstherapie akuter oder längst chronischer Langeweile.“ (Spitzweg von Eckhart Nickel, S. 216)

*

Die noblen Connaisseure und ihr gepflegtes Nichtstun – dieses Thema reizte offenbar Ex-Popliteraten Eckhart Nickel zu einem illustren Schmöker. Seine Schülergeschichte Spitzweg schaffte es sogar auf die Shortlist für den Deutschen Buchpreis. Der Roman ist eine mehr oder weniger gelungene Hommage an das Werk und den titelgebenden Künstler Franz Carl Spitzweg (1808 – 1885). Besagter Biedermeier-Maler – zeitlebens ein Junggeselle – widmete sich idyllischen Kleinstadtecken, romantischen Begebenheiten und kauzigen Sonderlingen. Der deutsche Maler und Zeichner ist bis heute hierzulande recht beliebt. Spitzweg verarbeitete in seinem teils humoristischen künstlerischen Werk gerne auch Ironie und Zeitkritik, die aus kleinbürgerlicher Biedermeier-Idylle mitunter frech hervorlugt.

Eckhart Nickel setzt nun dem Künstler mit seinem Roman ein kleines Denkmal, verweist in einem vielschichtigen Geflecht aber auch auf viele andere Werke, Stimmen und Begebenheiten. Es gibt zahllose, leider oft belanglos wirkende, Querverweise auf die Kunst- und Kulturwelt. Nickel war 1999 neben u.a. Benjamin von Stuckrad-Barre und Christian Kracht Mitglied des popkulturellen Quintetts Tristesse Royale, das sich egozentrisch und snobistisch öffentlichkeitswirksam platten Banalitäten hingab. Die Tiefe des Anspielungsraumes wirkt in Spitzweg beliebig, wenn etwa Arno Schmidt nicht nur neben Spitzweg und Prefab Sprout einleitend vor Romanbeginn zitiert wird, sondern das Schlusskapitel gar „Zetteltraum“ heißt, und dabei womöglich Schmidts Monumentalwerk Zettel's Traum (1970) anzitiert. Kein Wunder also, dass der namenlos bleibende Ich-Erzähler des Romans ganz eingenommen ist von der Belesenheit eines neuen Mitschülers, Carl (auch der Vorname des realen Spitzweg), mit dem er im Romanverlauf viel Zeit verbringt:


„Es gab offenbar kein gutes Buch, das ich je gelesen hatte, das Carl nicht auch kannte und liebte. Nur war er anders als ich in der Lage, die Lektüren absolut beiläufig zu erwähnen und dabei gleichzeitig sein Wissen durchschimmern zu lassen, ohne einen damit vor den Kopf zu stoßen.“ (S. 166)


Carl, recht dekadent, dandyhaft und altklug gezeichnet, mutet dem Ich-Erzähler gar in seiner Gewandtheit wie ein „Fabelwesen“ (S. 160) an. Kann eine so weise und besonnen agierende Figur als einfacher Abiturient durchgehen? Die Figurenkonstellation erscheint hier doch recht krude. Der Ich-Erzähler selbst ist als tagträumender Beobachter Spitzwegs Figur des Hagestolz nachempfunden, der auf dem Buchcover abgebildet ist. Das Ölgemälde von 1846/1847 zeigt im Bildzentrum die Rückenansicht eines Anzug tragenden, abgesondert stehenden Herren mit Zylinder, der während des Spaziergangs zu feierlich gekleideten Pärchen und Familien blickt. Spitzwegs Gemälde deutet hier einen eleganten Dandy als abseits stehenden Sonderling. In Nickels Roman gibt es nichtsdestotrotz eine Dritte im Bunde: die zeichnerisch und malerisch begabte Kirsten, für die der Erzähler heimlich schwärmt. Es wirkt mitunter etwas spookie, wenn der Erzähler Kirsten in wohliger Erinnerung an das Tetra-Erfrischungsgetränk Sunkist „Sunkirsten“ (S. 176) nennt. Sein Schwarm verschwindet im Romanverlauf und gibt den beiden Freunden Rätsel auf. Beschreibungen sind oft allzu ausführlich, wenn der Erzähler sich im Denken gefällt:


„Seit meiner frühen Kindheit litt ich immer wieder unter Zwangsvorstellungen, die sich regelmäßig einstellten, wenn ich mich von Menschen, die mir sehr nahestanden, für eine Weile verabschieden musste.“ (S. 180)


Begegnungen werden mit Bedeutung aufgeladen. Trotzdem bleiben Schicksale, wie das der unheimlich gezeichneten Mutter Kirstens, offen. Sie teilt dem Erzähler intim eigene Gefühle mit; wie es mit ihr und ihrem vermissten Gatten weitergeht erfahren Ich-Erzähler und Leser jedoch nicht. Der Satzbau wirkt oftmals gestelzt, künstlich verschachtelt und verstiegen. Verwirrend und übertrieben sind teils auch Verweise, wenn es etwa über die mythologische Geschichte des Ikarus heißt, er trage den „Vater auf dem Rücken“ (S. 96). Der Erzähler erweist sich auch später als unzuverlässig, wenn er nach einer innigen Begegnung erklärt:


„Und ich war mir nicht mehr sicher, ob die Unterhaltung überhaupt stattgefunden hatte oder nur das verstörte Werk meiner inzwischen hoffnungslos überreizten Einbildungskraft gewesen war.“ (S. 205)


Spitzweg ist ein wenig nuancierter, recht lauer und künstlich elaborierter Roman mit bemerkenswert wenig Handlung. Berlinische oder norddeutsche Ausdrücke wie „mittenmang“ (S. 59) oder Tippfehler „Es geht allein darum, das Nichtstun aus[sic!]halten…“ (S. 204) erschweren den Lesefluss. Inhaltlich ergeht sich Nickel vor allem in sehr persönlichen Bildbeschreibungen, die oftmals unbedeutende Randdetails hervorheben. Wer den zahlreichen und seitenlangen Ausführungen etwa zu Gemälden Spitzwegs oder Leonardo da Vincis folgen möchte, sollte im Internet die Gemälde aufrufen. Es fehlt dem Roman am sogenannten „fine wit“, der noch auf S. 185 in Anlehnung an ein Shakespeare-Sonett gelobt wird: „To hear with eyes, belongs to love’s fine wit.“ (S. 185). Dabei hatte der verstiegene Wurf über einen unvermuteten Kunstraub einige realhistorisch beachtenswerte Vorlagen. Gab es doch tatsächlich prominente Kunstraube an Werken Spitzwegs: 2006 wurde das Gemälde Friedenszeit (1846), das Nickel in seinem Roman ausführlich beschreibt, aus der Kunsthalle Mannheim gestohlen. 1976 entführte der Performance-Künstler Ulay das Gemälde Der arme Poet (1839) aus der Nationalgalerie Berlin. Beide Werke tauchten später wieder auf, so wie die schmerzlich vermisste Kirsten in Nickels Roman.


Ansgar Skoda - 24. November 2022
ID 13928
Piper-Link zur Romanbiografie Spitzweg


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