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Es gibt Buchtitel, bei denen man(n) Hemmungen hat, sie zu rezensieren: So etwa bei Nicole Seiferts „einige Herren sagten etwas dazu“, das im Untertitel sein eigentliches Sujet verrät: Die Autorinnen der Gruppe 47.


„Dass eine Frau vor der Gruppe las, war in diesen Jahren noch eine Seltenheit. Dass es ihr erster Auftritt in diesem Kreis war und sie vor Aufregung kein Wort herausbrachte, tat ein Übriges. Und dass es sich um eine promovierte Intellektuelle handelte, die da hilflos und schutzbedürftig wirkte, rief Faszination und Irritation hervor.“ (S. 93)


Ingeborg Bachmann gilt heute, neben Böll, Grass, Walser, Enzensberger oder Handke, als bekanntestes Gesicht der legendären Gruppe 47. In ihrem Sachbuch über die Entwicklung des Schriftstellertreffens, das den deutschsprachigen Literaturbetrieb viele Jahre prägte, beleuchtet Nicole Seifert das Schicksal weiterer bekannter und weniger bekannter Autorinnen, die Organisator Hans Werner Richter von 1947 bis 1967 als Vortragende zu den von ihm an unterschiedlichen Orten organisierten Tagungen einlud. Es geht ihr darum, den Kanon einer Revision zu unterziehen und Stereotype wie Weiblichkeitszuschreibungen oder geschlechtsbezogene Vorurteile aufzubrechen.

Seiferts anekdotenreiches und detailgenau recherchiertes Sachbuch bietet keine geschlossene Geschichte, sondern ist an den Quellen entlang erzählt und betrachtet chronologisch nacheinander die Gruppe 47 und Autorinnen, die an den Tagungen teilnahmen. Neben Selbstaussagen und literaturhistorische Betrachtungen treten dabei zeitgenössische Kritiken, Zitate von Weggefährten und Teilnehmenden der Gruppe 47.

Zu Beginn waren die Mitglieder der Gruppe 47 Soldaten der deutschen Wehrmacht, die Hitlers Angriffskrieg ausführten. In der amerikanischen Kriegsgefangenschaft hatte Hans Werner Richter zusammen mit Alfred Andersch und anderen Kollegen eine Zeitschrift redaktionell gestaltet. Wieder in Deutschland plante er mit diesen Kollegen nun das Treffen als ein neues Projekt.


„Was angefangen hatte als Literaturwerkstatt ehemaliger Kriegsteilnehmer, von etablierten Literaturkritikern zunächst nicht beachtet und dann kritisch beäugt, waren nun Lesungen teils sehr anerkannter Autor*innen vor Kritikern, die sich auf diesem Weg ihrerseits einen Namen machten. Verlage und Zeitungen schenkten den Treffen viel Aufmerksamkeit und die mediale Begleitung schürte die Neugier der interessierten Bevölkerung.“(S. 126)


Das Szenario in der Gruppe 47 erfolgte wie heute beim Klagenfurter Bachmann-Preis; die Autoren lasen etwas, anschließend gab es eine Diskussion über das Vorgetragene, an der sich der Autor nicht beteiligen durfte. Geprägt war der Geist der Gruppe von der sogenannten Trümmer- oder Kahlschlagliteratur, die sich von der Vergangenheit lösen und absetzen wollte. Antifaschistische Themen wurden so ausgeklammert oder ignoriert.

Frauen waren anfangs meist nur als Begleitpersonen der Herren für die Versorgung zuständig. Als Richter erste Autorinnen zu den Treffen einlud, war die Literaturkritik teils vernichtend. Dass die Kritik dabei oft von Journalistinnen kam deutet an, dass sich Frauen untereinander nicht solidarisierten. Erste Erfolge in der Gruppe hatten Ilse Aichinger und Ingeborg Bachmann, die schon in Wien miteinander befreundet waren:


„Der zurückhaltende, schüchterne Habitus von Aichinger und Bachmann wurde als etwas spezifisch Weibliches empfunden und als solches von der Gruppe positiv aufgenommen.“ (S. 90)


Sie sind die einzigen Frauen, denen 1951 respektive 1952 der Preis der Gruppe zugesprochen wurde.

Seifert hebt hervor, dass Aichinger und Bachmann die „Schwere tabuisierter Themen“ der Gruppe unterlaufen, da sie thematisch die Vergangenheit durchaus reflektieren:


„Je verdichteter und schwerer zugänglich die Texte waren, desto mehr wurden sie goutiert – aber vollkommen oberflächlich, ohne inhaltlich besprochen zu werden.“ (S. 107)


Bachmann und Aichinger arbeiten unter anderem in ihren Werken mit dem Unbewussten und thematisieren Schuld und Verantwortung, Gewalt der Systeme und ein Fortbestehen nazistischer Strukturen.

Lesende Autorinnen bleiben in der Minderheit. Ingeborg Drewitz erhielt nach ihrer ersten Lesung keine Einladungskarte von Hans Werner Richter mehr, Nelly Sachs kam nur als Zuschauerin, Christa Wolf wurde gar nicht erst eingeladen. Bei vor der Gruppe 47 lesenden Schriftstellerinnen lobt Seifert oft das Assoziative, das Indirekte, ästhetisch besondere Verfahren, die Thematisierung weiblicher Selbsterfahrungen und Verortungen der eigenen Position.

Die damals u.a. von Günter Grass protegierte Helga M. Novak schreibt sachlich nüchtern und direkt über Schuld, Schmerz und Scham. Sie ist heute weitgehend unbekannt. Neben ihrem im Buch abgedruckten Gedicht Dezemberklage widmet sich Seifert einer weiteren, heute weitestgehend vergessenen Autorin: Griseldis Fleming. Seifert gibt aus ihrem Oeuvre das vieldeutige Gedicht Unter dem Blei der Sonne wieder. Schließlich befasst sie sich auch mit den zahlreichen Kritikerstimmen beim Erscheinen von Elisabeth Borchers beunruhigendem, surrealistisch anmutendem, durchgehend kleingeschriebenem eia wasser regnet schlaf, um darauf aufbauend das umfangreiche Schaffen der Schriftstellerin zu fokussieren.

Eine weitere interessante Autorin, die Seifert eingehender beleuchtet, ist Gisela Elsner, die während ihrer Lesungen vor der Gruppe 47 auffiel. In ihren Romanen, wie dem satirischen Debüt Die Riesenzwerge (1964), liegt eine bestechende Gesellschaftskritik, als deren Ursache Wut auf gesellschaftliche Zustände deutbar ist. In der Gruppe 47 wird Elsner von Zeitgenossen "als manieriert oder modisch beschrieben, als kokett und eitel“ Seifert betrachtet. Elsners entbehrungsreichen Werdegang als Schriftstellerin:


„Sich von den einschränkenden und herabsetzenden Zuschreibungen der Kritik wieder zu befreien, war eine Anstrengung, mit der sie lebenslang zu tun hatte.“ (S. 183)


Elsner selbst wurde Zeitzeugen zufolge in der Gruppe auch Sphinx, Kleopatra oder Medusa genannt. So trat...


„...eine schräge, inkohärente Mythisierung an die Stelle einer ernsthaften Auseinandersetzung mit der Schriftstellerin“ (S. 140).


Anhand der porträtierten Autorinnen legt Nicole Seifert Grundpfeiler und Rollenmuster des Patriarchats offen und fokussiert verschiedene Arten der Diskriminierung. So wurden auch andere Autorinnen in der Gruppe 47 mit Zuschreibungen wie Melusine oder Undine überhöht und mystifiziert, um sie gleichzeitig auszuschließen oder aus der Realität auszubürgern.

Vermehrt wird der Gruppe 47 fehlende Gesellschaftskritik und auch ein Ausschluss von Emigranten oder ins Exil gegangener Schreibender vorgeworfen. Zunehmend gibt es auch Kritik an versteinerten „Tagungsriten“, der exklusiven Einladungspraxis und Hans Werner Richters Auswahlkriterien, der Organisationsform und Binnenstruktur, internen Regeln, der geistigen Atmosphäre und politischen Grundhaltung.

Ein packendes historisches Zeugnis, das gleichzeitig ästhetische Verfahren thematisiert. Wenn es um Misogynie geht, erscheint die Autorin mitunter arg kämpferisch. Bei einigen irritierenden Anekdoten möchte man gerne bei Zeitzeugen nachhaken.

*

Nicole Seifert zitiert bekannte Studien, wie von Silvia Bovenschen, Sigrid Weigel oder Hannah Arendt. Seifert arbeitet viel mit Zitaten ohne direkte Angaben oder hochgestellte Zahlen. Sie macht Quellen aber erst in den Anmerkungen am Buchende kenntlich, weshalb sie mitunter nicht leicht zuordbar sind.

Autorinnen wie Gisela Elsner werden heutzutage vermehrt wiederentdeckt. Es sind nach wie vor eher Frauen, die Literatur lesen und auch Literaturwissenschaften studieren. Gegen Ende einer besuchten Lesung in der Kölner Zentralbibliothek lässt es sich eine sichtlich bewegte Besucherin im Podium nicht nehmen, den Besuchenden und auch Autorin Nicole Seifert und Moderatorin Wiebke Porombka mitzuteilen, dass es heute eine ganze Reihe an Literaturgeschichten mit Fokus auf dem Wirken von Frauen gebe, die den sogenannten Kanon „gegen den Strich“ lesen.


Ansgar Skoda - 7. April 2024
ID 14690
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