„Unser Sohn
Zions“
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Bewertung:
„Zum ersten Mal seit Tagen kann ich wieder Stunden vorausdenken. Statt die Zeit horizontal, von einer Sekunde zur anderen wahrzunehmen, hat sie in den letzten Wochen eine vertikale Dimension bekommen. Alles geschieht gleichzeitig, die Vergangenheit erobert jeden Moment aufs Neue. Ich lebe in einer Welt mit eigenen Regeln und Gesetzen, jenseits von Leben und Tod. Jetzt, da Immanuel tot ist, bin ich ihm näher als damals, als er noch lebte.“ (Anneleen Van Offel, Hier ist alles sicher, S. 123)
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Gleich vorneweg, der Romantitel wird als eine Behauptung entlarvt: Sicherheit scheint in Hier ist alles sicher grundlegend in Frage zu stehen. Lydia Lamont folgt dem Ruf ihres Stiefsohns Immanuel nach Israel, um vor Ort zu erkennen, dass sie ihn nicht mehr antreffen wird. Er schrieb ihr aus einer seelischen Notlage heraus, obwohl der Kontakt schon über Jahre abgebrochen war. In ihrem Debüt zeichnet Anneleen Van Offel eine zutiefst irritierte, verzweifelte Frau, welche die Vergangenheit ihres verstorbenen Stiefsohns erforscht, der zuletzt als Soldat diente. Genaue Bilder der Vor-Ort-Situation und intensive Stimmungen fesseln beim Lesen des Werkes.
Das Land Israel und der Israel-Konflikt sind in den Medien präsent wie nie. Der Krieg in Nahost prägt die weltpolitische Lage und trägt zur Bedrohung eines Dritten Weltkrieges bei. Der Angriff von Kämpfern der islamistischen Terrororganisation Hamas am 7. Oktober 2023 auf Israel sorgte für eine große Gegenoffensive und fortdauernde Kämpfe mit vielen Zivilopfern. Schwer bewaffnete Soldaten sind im Bild des Landes seit vielen Jahren präsent. Diese bedrohliche Vor-Ort-Präsenz wird auch im Roman in authentischen Momentaufnahmen bebildert, wenn sich Lydia inmitten einer wartenden Menschenmenge, die von Soldaten aufmerksam beobachtet wird, als austauschbar begreift:
„Wir stehen viel zu dicht gedrängt, und je mehr wir uns wie ein einziger verschwitzter Körper zum Drehkreuz vorschieben, desto stärker werde ich mir meines Körpers bewusst, des Punktes, an dem er endet und andere anfangen. Ich sehe, wie sich all die Körper ständig verändern, unablässig von einem Menschen in den leicht anderen, neuen übergehen, der uns langsam und unsichtbar überwuchert.“ (S. 128)
Der Roman springt perspektivisch regelmäßig in die Vergangenheit. Wir erfahren, wie Lydia den Vater ihres Stiefsohnes, Joachim Polak, in den Niederlanden kennenlernte: Sie war Ärztin im Krankenhaus, als Immanuels Mutter bei der Geburt verstarb. Immanuels Schicksal ist, nach dem frühen Tod der leiblichen Mutter, weiterhin viel vom Alleingelassenwerden in der Familie geprägt.
Konflikte bestimmen den häuslichen Alltag, etwa wenn es um Reisen geht. Johannes will nicht in die Heimat Polen, Lydia nicht nach Israel. Joachim erzieht Immanuel jüdisch, Lydia scheint bei der Kindererziehung von Anfang an wenig Einfluss zu nehmen. Als Joachim sein Kind mit drastischen Schilderungen während Vor-Ort-Besichtigungen von Konzentrationslagern konfrontiert, ist Lydia entsetzt. Zurückweisungen und Schicksalsschläge bestimmen den Alltag Immanuels: Nachdem Joachim und Lydia sich getrennt haben, zieht sein Vater mit ihm nach Israel. Bald lernt Joachim eine jüdische Frau und Mutter dreier kleiner Töchter kennen. Fortan ist Immanuel noch mehr auf sich alleine gestellt. Er erfährt von der neuen Stiefmutter erst Anerkennung, als er seinen Wehrdienst antritt:
„Damals bekam er eine ganz neue Rolle innerhalb der Familie. Aus dem Ältesten, dem störenden Stiefsohn, der an zwei gescheiterte Familien erinnerte, war ein Held geworden. Er könnte etwas zurückgeben, rief ihm Joachim regelmäßig in Erinnerung. Israel garantiere für seine Sicherheit, jetzt könne er für Israels Sicherheit garantieren.“ (S. 80)
Lydia wird dies durch Ofra, Immanuels erste große Liebe erzählt, die sie in Israel aufsucht. Van Offel erlaubt sich einige experimentelle Kniffe. So wechselt ab der Mitte plötzlich unvermittelt die Erzählperspektive. Neben Lydia erzählt nun Immanuel zu einem Zeitpunkt kurz vor seinem Ableben. Wir erfahren nun aus erster Hand etwas über sein Aufwachsen in Israel, seine Bindungen zu Lydia und Ofra und erleben ihn während seiner Ausbildung als Soldat sowie später als Ausbilder anderer Soldaten.
Eindringlich schildert Van Offel, wie Immanuel, eine Gruppe junger Soldaten anführend, einen Verdächtigen verfolgt und in der bedrohlichen Situation eine Falle oder eine Explosion fürchtet:
„Der Mann war jetzt nicht mehr zu sehen, verschmolz mit dem Schatten der Stufen. Der atmosphärische Druck veränderte sich, wir wurden zu Boden gedrückt, so fühlte sich das an, so als hielte uns etwas unter Wasser, wir befanden uns in einer Welt, die von der anderen, großen Welt getrennt war, in einem Mikro-Universum, das nur zwei Pole kannte: sicher, unsicher; Leben, Tod. Die Angst schaltete überflüssige Körperfunktionen aus, wir vereinfachten, wurden auf einen Teil von uns reduziert. “ (S. 199f.)
Während Immanuel kurzzeitig unter den Soldaten Zugehörigkeit empfindet, dominieren im Roman auch Metaphern für das Trennende, was auch der Sprung auf dem Buchcover oder in Kapiteln hervorgehobene Bilder andeuten:
„Ab und zu endet der Fußweg abrupt, und ich muss auf die Straße ausweichen. Ich laufe an einer grauen Mauer entlang, an der meterhohe Fotos hängen, Kunstwerke, und erst nach einigen hundert Metern begreife ich, dass das nicht irgendeine Mauer ist, sondern die Mauer, und weil sie so vollkommen ungerührt hier steht, trifft sie mich mit viel größerer Wucht als damals, als ich im Westjordanland mit Exodus Tours daran vorbeifuhr.“ (S. 230)
Mehrfach wiedergegebene Eindrücke von Grenzen, Spaltungen oder Rissen erscheinen bald ein bisschen abgenutzt. Die 1991 in Antwerpen geborene Autorin lässt viele Fragen offen, etwa warum Lydia nicht früher Kontakt zu Immanuel suchte oder auf seine Nachricht antwortete. Kleine Tippfehler wie „ertse Mal“ (S. 165), „was“ statt „war“ (S. 169), „übe“ statt „über“ (S. 216) schmälern ein bisschen die ansonsten gelungene Übersetzung aus dem Niederländischen von Christiane Burkhardt. Empfindsam, teils aber auch ein bisschen quälend, bebildert Van Offel eindrücklich eine Weitergabe innerfamiliärer Traumata, ohne dass der Großvater mit dem Vater oder der Vater mit dem Sohn wirklich offen darüber sprechen.
Ansgar Skoda - 13. Februar 2024 ID 14601
Verlagslink zum Roman
Hier ist alles sicher von Anneleen Van Offel
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