Aus der
Armut heraus
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Bewertung:
„Der Hauptfigur meiner Geschichte würde niemand glauben. Sie würden sagen, ich hätte den Mann in eine Falle gelockt, indem ich ihm zu verstehen gegeben und ihn Glauben gemacht hätte, dass gewisse Dinge sind, wie sie aussehen, und weil ich so etwas tue, müsse ich mit Sicherheit geistesgestört sein von all dem Elend, das mir widerfahren ist, und dem Durst nach Liebe in mir. Sie würden denken, ich sei das Monster und nicht er.“ (Pajtim Statovci, Grenzgänge, S. 135f.)
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Wie fluide können Geschlechtsidentäten sein, wenn sexuelle Erwartungen im Raum stehen? Ein älterer Herr nimmt den attraktiven Ich-Erzähler Bujar mit nach Hause. Dieser gibt in Frauenkleidern vor, die 23-jährige Ariana aus Bosnien zu sein. Die Erzählstimme fühlt sich auch als Frau und genießt sichtlich die Komplimente des Gegenübers. Erst im Schlafzimmer bemerkt der Verehrer das primäre Geschlechtsmerkmal seines Gastes. Er fühlt sich getäuscht, rastet aus, wird brutal und handgreiflich. Nach einem gefährlichen Handgemenge geht Bujar trotz diverser Prellungen nicht zur Polizeiwache. Als Migrant, der mit seiner Geschlechtsidentität spielt, rechnet er mit Schwierigkeiten seitens der Beamten. Bujar möchte etwas anderes seinen Alltag bestimmen lassen. Wie schon mehrfach zuvor, übergeht er den Schmerz der Gewalterfahrung und sexuellen Unerfülltheit. Bald schon bewegt er sich in der Öffentlichkeit wieder als Mann.
Der dicht erzählte Roman Grenzgänge von Pajtim Statovci überrascht durch eine Fülle wechselnder Schauplätze, erzählter Zeiten und Handlungen mit oft brutalen Schicksalsschlägen. Die längsten Episoden spielen in Tirana, der Hauptstadt Albaniens, wo der Protagonist als Heranwachsender mit einem sterbenden Vater und einer Mutter konfrontiert ist, die bald als Witwe zusehends verwahrlost. Hier prägen eine Freundschaft zum gleichaltrigen Jungen Agim das Geschehen. Dieser trägt gerne heimlich Frauenklamotten. Zusammen streifen sie um 1991, nach dem Zusammenbruch des Ostblocks, durch die Stadt. Dabei nehmen sie zusehends eine Perspektivlosigkeit der Bürger vor Ort wahr, aufgrund der katastrophalen ökonomischen Situation des Landes:
„Die Armut hatte die Menschen und ihr Zusammenleben kaputt gemacht, das zwischen Männern und ihren Ehefrauen, das zwischen Geschwistern und das zwischen Kindern und ihren Eltern. Der Hunger trieb viele in den Selbstmord oder dazu, ihr gesamtes Hab und Gut für wenig Geld zu verkaufen, manche verloren ihre Häuser beim Glücksspiel.“ (S. 194)
Knappe Beobachtungen veranschaulichen, wie dem Ich-Erzähler als Kind Gefühle der Wertlosigkeit, Vergeblichkeit und ein geringes Selbstwertgefühl vermittelt werden. Agim und Bujar sind früh auf sich alleine gestellt. Sie hungern, stehlen, sind auf Hilfe angewiesen. Der obdachlose Bujar findet einen Job als Aushilfe in einer Spülküche. Bald missbraucht der Arbeitgeber den Minderjährigen dort sexuell über Monate. Später gelingt es Bujar aus Albanien zu fliehen. Der nicht durchgehend chronologisch erzählte Roman zeigt den erwachsenen Bujar dann als strandend in Berlin-Wedding und in New York-Manhattan. Kursiv gesetzte Angaben unter den Kapiteltiteln teilen Ortswechsel und Zeitsprünge mit, die teils mit Identitäts- oder Geschlechtsidentitätswechseln des Protagonisten einhergehen.
So vermittelt der Roman regelmäßig einen Raum der Unsicherheit und Leere, in dem alles möglich, jedoch nichts gegeben scheint. Die Aussichten ohne Perspektive erreichen schließlich einen Höhepunkt im finnischen Helsinki. Hier geht Bujar eine Beziehung mit der Mann-zu-Frau-Transsexuellen Tanja ein. Bujar nimmt darüber hinaus für einen TV- Song-Contest ohne Tanjas Wissen ihre Identität an. Aufgrund der Sensationslust der Fernsehsender, die Bujars respektive Tanjas Geschichte einschließlich der vorgeblichen Transsexualität ausschlachten möchten, schafft er es in Vorausscheidungen des Contests. Spätestens hier ist der Ich-Erzähler, der fast gewohnheitsmäßig lügt, nicht mehr nur Sympathieträger.
Doch bald legen Bilder der Gefühle Scham und Schuld eine Analogie der Beziehung zwischen Bujar und Agim respektive Tanja nahe. Das kunstvolle Buchcover, das ein und gleichzeitig zwei geflügelte Wesen zeigt, korrespondiert hier mit der Motivdichte und klug verschachtelten, überraschenden Geschichte.
Der große Verdienst des Romans ist, dass das Thema Armutsflucht aus der Perspektive eines Flüchtlings auf vielen Ebenen, mal als Abenteuer, mal als existentielle Belastung, schließlich als Trauma beleuchtet wird. So vergleicht Bujar während eines Creative-Writing-Kurses in Berlin die Trauer eines anderen Teilnehmenden über eine verstorbene Tochter mit seinem Schicksal und dem
trostlosen Gefühl der Ungebundenheit und Leere:
„Ich möchte sagen, nein, ein Mensch kann nicht an Trauer sterben, denn ich weiß, was Trauer bedeutet, aber ich habe das Gefühl, dass ein Mensch an Ödnis sterben kann, weil Trauer – der Verlust, handeln und etwas tun zu wollen –, nichts ist im Vergleich dazu, dass einem etwas zu tun fehlt. Das ist es, was einen Menschen kaputt macht.“ (S. 124)
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Der heute 32-jährige, im Kosovo geborene, finnische Autor Pajtim Statovci ist Sohn albanischer Eltern. Er errang bereits mehrere Literaturpreise und war mit der englischen Übersetzung Crossing 2019 einer der Finalisten um den National Book Award in den USA. Es bleibt zu hoffen, dass weitere Werke Statovcis bald so gut, wie hier von Stefan Moster, aus dem Finnischen ins Deutsche übersetzt werden.
Ansgar Skoda - 12. August 2022 ID 13750
Luchterhand-Link zum Roman
Grenzgänge
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