Unsere Neue Geschichte (Teil 24)
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(K)ein Schiff
wird kommen
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Bewertung:
„Der Zerfall des Menschlichen treibt uns an, ob wir wollen oder nicht. Anspruch und Wirklichkeit der westlichen Welt klaffen so weit auseinander, dass wir uns nicht mehr für das Gute, sondern nur noch gegen das Schlechte erheben können, hier auf unserem schwimmenden Außenposten der Vernunft.“ (Pia Klemp, Lass uns mit den Toten tanzen)
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Die Autorin Pia Klemp war von 2015 bis 2017 als Kapitänin im Mittelmeer unterwegs, um in Seenot geratene Bootsflüchtlinge zu retten. Dann wurde ihr Schiff von den italienischen Behörden beschlagnahmt und die Crew wegen Schlepperei angeklagt. Es drohen ihnen 20 Jahre Haft und 15.000 Euro Strafe pro gerettetes Leben, Gesamtsumme um die 210 Millionen Euro. Wegen des schwebenden Verfahrens und angedrohter Verhaftung unterließ sie seitdem die Seenotrettung, schrieb aber in der Zwischenzeit ein Buch aus dem Blickwinkel einer Insiderin. Lass uns mit den Toten tanzen ist ein Roman, also fiktiv, weil ihr das im Gegensatz zu einem Sachbuch mehr Freiheiten lässt. Die Protagonistin ist eindeutig ein Alter Ego von Klemp und beginnt mit den Vorbereitungen zum baldigen Auslaufen zu einer Rettungsmission. Es sind nur einige Profis an Bord, der Rest ist eine „Crew aus Hippies, Punks und Weltverbesserern“, die sich freiwillig gemeldet haben, weil alle nicht akzeptieren, dass die EU die Seenotrettung eingestellt hat und Tausende von Menschen einfach ertrinken lässt. Das verstößt gegen internationales Seerecht, im Grunde genommen gegen jedes Recht, doch in einer völlig abstrusen Umkehr davon werden die Seenotretter kriminalisiert und nicht diejenigen, die sich unterlassener Hilfeleistung schuldig machen.
Die fiktive Kapitänin wird als kompromisslos und auf den ersten Blick nicht sonderlich sympathisch dargestellt. Sie flucht, raucht, besäuft sich mitunter, und die Autorin räumt ihr einen gesunden sexuellen Appetit ein. Als militante Veganerin legt sie sich ständig mit Tierprodukte verschlingenden Mitmenschen an, denen sie keine Zeit für Erkenntnis und einen Prozess zur Umstellung zugesteht. Doch nach einiger Zeit merkt man, dass die raue Schale auch Selbstschutz ist, und den derben, aber durchaus umwerfenden Humor „Was soll man dem Hähnchen auch sagen, das im Ofen mehr Platz hat, als es je zu Lebzeiten hatte?“ erklärt die Veganerin sarkastisch.
Der Druck auf die Retter ist groß und vielgestaltig. Sie leben wochenlang auf engstem Raum miteinander, einige werden am Anfang seekrank, sie werden von den Behörden irregeführt und schikaniert und dürfen nicht zu nah an die libysche Küste heranfahren, weil es da vermehrt Übergriffe der mit Maschinengewehren herumfuchtelnden „Milizenheinis“ auf die Schiffe der NGOs gegeben hat. Wenn es dann zum Einsatz kommt, werden insbesondere die Neulinge traumatisiert, die zum ersten Mal mit dem Ertrinken von Menschen und dem elenden Zustand der Überlebenden konfrontiert werden. Einige der Geflüchteten erzählen von Verfolgung, Folter und anderen Abgründen menschlichen Handelns, ihren Familien und den Angehörigen, die sie verloren haben. Auch die Befindlichkeit der Kapitänin und der Crew wird anschaulich geschildert, so dass man sich gut in die Lage der Retter und Geretteten hineinversetzen kann. Völlig unverständlich bleibt das Versagen der Politik und der Behörden. Klemp hebt hervor, dass es sich hierbei um kein humanistisches Problem handelt, sondern um ein politisches, und es sieht nicht nach Lösungsversuchen aus. Sie kommt zu dem Schluss: „Man muss sich gegen das System wenden, nicht gegen seine Opfer.“ (S. 124).
Die erste Hälfte des Buches liest sich wie ein Thriller, nur dass man leider davon ausgehen muss, dass die Schilderungen einen sehr hohen Wahrheitsgehalt haben. Die Crew wächst mit jedem Tag enger zusammen, und in den besten Momenten kommt es sogar zu Glücksgefühlen. Der raue Tonfall des Romans mag ein Schutz vor Idealisierung sein, denn diejenigen, die da draußen für das wahre Recht und die Menschlichkeit einstehen, sind im Grunde genommen Helden und Heldinnen, sie arbeiten unter unerträglichen Bedingungen, sehen unendlich viel Elend und Leid. Sie übernehmen als Individuen die Aufgabe, die eigentlich der EU zukäme und müssen mit dem Unrecht fertig werden dafür auch noch bedroht, angeklagt und mit möglicher Haft bestraft zu werden, von den irrwitzig hohen Geldforderungen ganz abzusehen.
Die zweite Hälfte des Buches begleitet die Kapitänin, nachdem sie keine mehr ist, weil das Schiff beschlagnahmt wurde. Ein Kapitän ohne Schiff, das ist ein Absturz. Auf sich selbst zurückgeworfen, erleben wir sie nach all ihren Seeabenteuern in der „normalen“ Welt, mit der sie nicht zurecht kommt. Dann geht auch noch ihre Beziehung in die Brüche, die dem Alltag nicht standgehalten hat. Doch sie leidet nicht nur an Liebeskummer, sondern an einem „Lebenskummer“ und einem Weltschmerz. Sie ist in der Lage, den desolaten Zustand unserer Gesellschaft und des Planeten zu erkennen und fühlt sich zwischenzeitlich ohnmächtig, weil sie vor Ort nicht mehr helfen kann. Doch dann kehren ihre Lebensgeister zurück und sie arbeitet daran, was die Autorin derzeit auch macht: Pia Klemp versucht – ähnlich wie Kapitänin Carola Rackete u.a. - , die Öffentlichkeit zu mobilisieren. Der Roman ist dabei ein kreativer, konstruktiver und immer noch kämpferischer Ansatz: „... mit all der Gängelei, mit jeder Verhöhnung von Gerechtigkeit, bestärken sie uns in dem, was wir tun“ (S. 98).
Helga Fitzner - 6. September 2019 ID 11662
Verlagslink zum Roman
https://www.maroverlag.de
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