Angst-
erzeugung
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Mit der Verschärfung der sozialen Gegensätze in der neoliberalen Gesellschaft hat die Auseinandersetzung mit der Frage der (politischen) Macht zugenommen. Ökonomen, Soziologen, Politikwissenschaftler, Psychologen stellen Thesen auf und versuchen sich in einer halbwegs konsistenten Systematik, die oft sehr unterschiedliche Erscheinungsformen von Machtausübung erklären sollen. Zur Verwirrung trägt bei, dass das Thema hochideologisch ist. Wer die Konzentration und den Missbrauch von Macht aus welchen Gründen auch immer eher verschleiern möchte, wird anders argumentieren als ein Kritiker der Macht. Wer selbst in einem Nahverhältnis zur Macht steht – und man gebe sich nicht der Illusion hin, dass dies für Wissenschaftler nicht in Betracht käme –, wird zu anderen Ergebnissen neigen als ein von der Macht Benachteiligter.
Einen unorthodoxen Zugang zur Frage der Macht hat nun der Kieler Wahrnehmungs- und Kognitionsforscher Rainer Mausfeld gewählt. Er sieht die Kategorie der Angst als zentrale Kategorie für die Ausübung von Herrschaft, und zwar nicht allgemein, auch nicht in Diktaturen, wo der Gedanke eher auf der Hand liegt, sondern spezifisch in kapitalistischen Demokratien. Jean Ziegler zum Beispiel oder Noam Chomsky, um zwei Zeitgenossen zu nennen, die sich kapitalismuskritisch mit der Frage der Macht auseinandersetzen, wäre diese Sichtweise wohl ziemlich fremd.
Mit aller Deutlichkeit formuliert Mausfeld: „Eine kapitalistische Demokratie kann es ohne massive Beeinflussung der öffentlichen Meinung und ohne systematische Erzeugung von Angst nicht geben.“ Im weiteren führt der Autor in seinem schmalen Essay aus, welcher Methoden sich der Kapitalismus zur Angsterzeugung bedient und auf welche Teilgebiete des gesellschaftlichen Lebens sie sich erstreckt. Zutreffend stellt er fest: „In kapitalistischen Demokratien dient die Ideologie der Meritokratie dazu, den Status quo einer Herrschaft der Besitzenden zu rechtfertigen und die Nicht-Besitzenden zu einer Duldung und Zustimmung zu bringen, indem ihnen die Hoffnung vermittelt wird, dass sie bei genügender Leistung und Anstrengung ihren sozialen Status verbessern können.“ Diese Ideologie erzeugt Versagensängste, die sich zu „Binnenängsten“ wandeln.
Auch die „propagandistische Erzeugung einer vorgeblichen Bedrohung“ ist ein probates Mittel der Angsterzeugung. Etwas überraschend reiht Mausfeld in diesem Zusammenhang Überlegungen zum „Kampf gegen den Rechtspopulismus“, „Zu rassistischen Ressentiments des Rechtspopulismus“ und zum „Kampf gegen den Terror“ an einander.
Zu den Besonderheiten des Neoliberalismus gehört es nach Mausfeld, dass ihrer Ideologie zufolge „die gesellschaftliche Welt [als] prinzipiell unverstehbar und für den Einzelnen nicht rational erfassbar“ gelte. Diese Undurchschaubarkeit wiederum erzeugt Ängste. Die Menschen erliegen dem Gefühl, dass sie ihre „eigene soziale Lebenswelt“ nicht beeinflussen können.
Als weiteren Aspekt der Angsterzeugung nennt der Autor mit Berufung auf Pierre Bourdieu die zunehmende Prekarisierung. Ganz so grundsätzlich freilich, wie Mausfeld suggeriert, unterscheidet sich der Neoliberalismus nicht von den vorausgegangenen Stadien des Kapitalismus. Die Bedeutung der Angst vor dem sozialen Abstieg und deren Funktionalisierung spielt auch in der Literatur zur Vorgeschichte des Faschismus in Europa eine nicht unwesentliche Rolle.
Bleibt eine anregende Lektüre zu einem schlechterdings hochaktuellen Thema, das Leser, die skeptisch sind gegenüber monokausalen Erklärungen, durch weitere Bücher und Aufsätze ergänzen werden. Beide Stichwörter des Titels Angst und Macht weisen die Richtung, in der man suchen muss: nach Freud und nach Kracauer, nach Canetti und nach Herbert Marcuse. Das Thema ist leider unerschöpflich.
Thomas Rothschild – 5. August 2019 ID 11601
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