Menschheit
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„Unter 11 654 Programmierern war ich nur einer, und nachdem mein Ansuchen um Beförderung zum dreiundzwanzigsten Mal abgewiesen worden war, wohl der unbedeutendste von allen.“ (Raphaela Edelbauer, Dave, S. 49)
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Technik ist nicht losgelöst vom Menschen denkbar. Die Vorstellung vom künstlich erschaffenen Menschen gibt es bereits in der Antike. Auch die darauffolgenden Jahrhunderte erzählen davon. Doch welche Auswirkungen haben technologische Entwicklungen auf die Gesellschaft und das individuelle Leben? Im 21. Jahrhundert schuf der Mensch den Roboter nach seinem Ebenbild. Welche Gefahren, Grenzen, Gewinne und Horizonterweiterungen birgt künstliche Intelligenz? In Raphaela Edelbauers Roman Dave wird das in der Gesellschaft verankerte konfliktbehaftete Verhältnis von Mensch und Maschine beleuchtet. Es handelt von einem menschenähnlichen Supercomputer namens „DAVE“.
Die Autorin hat sich im Vorfeld 10 Jahre dem Thema KI gewidmet. Demgemäß birgt Dave anspielungsreich ein intertextuelles Netz, das mitunter auf die Gehirnforschung, die Gedächtnistheorie, Nitzsche oder Wittgenstein verweist. Auch Stanley Kubricks 2001: A Space Odyssey (1968) könnte wenigstens bei der Namensgebung des Titelhelden eine Rolle gespielt haben. „Es tut mir leid, Dave, das kann ich nicht tun", sagt der Bordcomputer zur Hauptfigur in der vielleicht bekanntesten Szene des Filmklassikers. Auch der Transhumanismus, eine philosophische Denkrichtung über die Verbesserung des Menschen mit technischen Mitteln, wird bei Edelbauer anfangs erwähnt. Diese Denkströmung wird einbezogen, wenn der Erzähler, der 28jährige Syz, Konsequenzen für die eigenen biologischen Begrenzungen überlegt:
„Die erste ist die Vereinigung des Menschen mit der Maschine: Das Eingehen in ein transzendentes Bewusstsein, das Unsterblichkeit, maximale Kognition und die Aufhebung aller Limitierungen verspricht. Doch ordnende Maßnahmen rücken wir Stück für Stück in den Bereich des rein Geistigen – weg von der analogen Welt, hin zum Digitalen. Die Menschen, denen dies ein Anliegen ist, nennen wir im Labor die Transhumanisten.“ (S. 40)
Es ist schwer, allen Fäden in Edelbauers zähem und ambitioniertem Roman zu folgen. Oft möchte man Sätze mehrmals lesen, um sie wirklich zu erfassen. Die 31jährige Wienerin verwendet auch bewusst Fremdwörter oder Austriazismen, wie „Lurch“ (für Staub) oder „Stiege“. Der Roman der vielfach ausgezeichneten Schriftstellerin, die 2019 mit Das flüssige Land auf der Shortlist für den deutschen Buchpreis stand, ist trotzdem fraglos eine große geistige Leistung. Doch ist es auch ein Vergnügen, diesen komplexen Science-Fiction zu lesen?
In einem düsteren Setting geht es darum, was den Menschen von der Maschine unterscheidet. Es gibt Essen in Pulverform, Kunstfiguren, und manchmal dreht es sich um die richtige Remote-Access-Lösung (das digitale Fernzugriff-Verfahren). Edelbauer wagt allemal einen visionären Ausblick in eine dystopisch anmutende Welt der Optimierung und Regulierung. Wie beiläufig werden oft große Fragen verhandelt:
Bestimmt Identität das Bewusstsein? Kann der Mensch seine Begrenztheit überschreiten, und wird sein Körper obsolet? Kontrolliert der Mensch den Roboter, oder ist es vielmehr umgekehrt? Ist der Mensch einzigartig, oder droht seine Ersetzbarkeit? Wie systemkonform kann man sein, wenn man täglich Bekanntschaft mit der Automatisierung macht und Automaten zu Bekannten werden? Entfremdet sich der Mensch bei allem Fortschrittswillen aus seiner eigenen Welt, wenn das System zur Vollendung gereicht? Wie sind die Herrschaftsverhältnisse, wenn mechanische Automaten das Denken bestimmen?
Der Handlungsfaden ist sperrig, widerspenstig, vielschichtig. Ein Riss zwischen Traum und Realität wird nicht immer offenbar. Auf beklemmende Weise verliert man beim Lesen bei aller Verästelung oftmals die Orientierung. Dave bereichern jedoch mitunter auch herausleuchtende Momente und spielerische Höhenflüge von imaginativer Qualität:
„DAVE ist menschlicher als jeder Mensch, indem er das, was an uns Akzidenz [Begriffsklärung d. A.: unwesentlich] ist – Dreck und Eingeweide und Materie – fort von uns nimmt, und nur das übrig bleibt, was zählt: Intelligenz, Seele, Unvergänglichkeit. Um Mensch zu werden, müssen wir den Menschen abschaffen, liebe Kinder.“ (S. 376)
Edelbauer wirft einen kritischen, vielleicht auch großspurigen Blick auf das Zukunftsbild des verbesserten Menschen oder gar auf eine Überwindung des Menschseins. Sie legt in ihrem rauen Wurf gedankliche Möglichkeiten für eine unheilvolle Zukunft offen.
Ansgar Skoda - 4. Mai 2021 ID 12890
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Dave
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