Wer hat uns
verraten? Die
Linksliberalen!
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Bewertung:
„Die rechten Parteien sind die neuen Arbeiterparteien. Das gilt nicht unbedingt für ihre Mitglieder, aber auf jeden Fall für ihre Wähler.“ (Sahra Wagenknecht, Die Selbstgerechten, S. 175)
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Es gab seit Beginn der Weimarer Republik mehrere Brüche in Deutschland, in denen sich die Linke von anderen Teilen der Linken verraten sah. Zuletzt, als 1999 Oskar Lafontaine vor Gerhard Schröder und dem Neoliberalismus in der SPD kapitulierte. Das, was sich seinerzeit links der SPD abgespalten hat, ist nun der Adressat, den Sahra Wagenknecht meint, wenn sie darauf hinweist, dass ein neuerliches Zeitgeistphänomen die eigentlichen Ziele der Linken unterhöhlt.
Sahra Wagenknechts Die Selbstgerechten (2021) ist eine nüchterne Kampfansage an die Politik der Partei Die Linken und die politische Linke in Deutschland allgemein. Sie kritisiert, dass bei den Linken zu sehr wirtschaftspolitische, machtpolitische und finanzpolitische Forderungen und Themen in den Hintergrund rücken, zugunsten sprachlicher Feinheiten, die gesellschaftliche Veränderungen abbilden: „So wurde aus Egoismus Selbstverwirklichung, aus Flexibilisierung Chancenvielfalt, aus zerstörten Sicherheiten der Abschied von Normalität und Konformität, aus der Globalisierung Weltoffenheit und aus Verantwortungslosigkeit gegenüber den Menschen im eigenen Land Weltbürgertum.“ (S. 137)
Die 51jährige möchte zurück zu einer linkskonservativen Politik der Solidarität mit den sozial Schwachen. Sie möchte eine gerechtere Umverteilung voranbringen. Es ist ihr wichtig, dass die Linken die Enttäuschung der Protestwähler rechter Parteien ernst nimmt. Die promovierte Volkswirtin kritisiert Steuersenkungen in der oberen Mittelschicht (S. 85), den Abbau des Sozialstaats, Privatisierungen und Sozialkürzungen (S. 93). Die ärmere Bevölkerung fühlt sich ihr zufolge gerade auch in Krisenzeiten mit ihren Problemen sozial im Stich gelassen und kulturell nicht mehr wertgeschätzt.
Multikulturalität vergisst die Migrationsverlierer
Eins vorneweg, die Kritik Wagenknechts ist mutig, weil sie Tabuthemen diskutiert:
„Den Zusammenhang von Migration und Lohndumping auch nur anzusprechen gilt im linksliberalen Mainstream heute als unanständig.“ (S. 162)
Sie erklärt anhand von Studien, dass bei den sozial schwächeren Schichten erhöhte Zuwanderung auch zu Konkurrenz um Arbeitsplätze mit Auswirkungen auf die Lohnhöhe führt:
„Zuwanderer werden als direkte und oft kostengünstigere Konkurrenten einheimischer Arbeitskräfte missbraucht und schwächen oftmals gewerkschaftlichen Einfluss.“ (S. 157)
Auch Wohnungsnot in Ballungsräumen, Belastungen des Sozialstaats und Probleme an Schulen wegen fehlender Deutschkenntnisse bei Migrantenkindern seien ernstzunehmende Themen. Den Zuspruch für rechte, zuwanderungskritische Parteien begründen oftmals auch die fehlende Übernahme deutscher Wertvorstellungen oder die Angst vor islamistischen Terroranschlägen:
„Was von vielen Linksliberalen als Multikulturalität schöngeredet wird, ist in Wahrheit das Scheitern von Integration.“ (S. 121)
Wagenknecht problematisiert, dass in Einwanderungsmilieus westliche Kultur und Werte von militanten Moscheeverbänden und islamischen Organisationen wie DITIB delegitimiert werden:
„Dieser Islam kann schon deshalb nicht zu einem Deutschland gehören, weil er gar nicht zur hiesigen Kultur und Gesellschaft gehören will.“ (S. 239)
Demgegenüber stellt die Politikerin, dass Abwanderung aus ärmeren Ländern für die betreffenden Länder auch ein Entwicklungshemmnis birgt, was auch hinsichtlich Osteuropas ein Problem sei. Diese Länder haben nun etwa in Krisenzeiten einen eklatanten Mangel an Ärzten, Kranken- und Altenpflegern:
„Migrationsverlierer auf globaler Ebene sind die ärmeren Länder. Migrationsverlierer in den Einwanderungsländern ist die ärmere Hälfte der Bevölkerung, zu der großenteils auch die Kinder und Enkel früherer Migranten gehören.“ (S. 169)
Wagenknecht unterscheidet die Not der Flüchtlinge von oft in ihrer Heimat privilegierten Armutszuwanderern. Ärmere Länder sollten nicht die Ausbildung für Spezialisten finanzieren, die dann mit erworbenen Qualifikationen im weiterentwickelten Ausland punkten könnten. Hier hat Wagenknecht eine Idee für mehr Solidarität mit Entwicklungsländern:
„Bei der Ausbildung der Spezialisten muss der Braindrain umgekehrt werden: Nicht die armen Länder bilden die Ärzte für die reichen aus, sondern die Reichen bieten Studenten aus Entwicklungsländern kostenlose Studiengänge an, bevorzugt in technischen und medizinischen Fachrichtungen, die lediglich mit der Bedingung verknüpft sind, die erworbenen Kenntnisse später im Heimatland anzuwenden.“ (S. 170)
Es gelte nicht nur bei Kriegsflüchtlingen mit Hilfen vor Ort zu unterstützen, da die meisten ärmeren Flüchtlinge eine Reise nach Europa nie auf sich nehmen könnten. Wagenknecht erinnert an Elendslager wie Dadab in Kenia und Zaatari in Jordanien.
Diversity und Quotierungen vergessen die einfachen Arbeiter
Wagenknecht achtet in Die Selbstgerechten nicht auf eine geschlechtergerechte Schreibweise und verwendet grammatisch männliche Formen bei Personenbezeichnungen. Das Wort „diversity“ lässt sie an weiße Arbeiter denken, für die „Diversity“ Privilegien bedeuten, und zwar auf deren Kosten (S. 115). Statt Quotierungen plädiert Wagenknecht für anonyme Bewerbungsverfahren, die ihr zufolge gerechter seien (S. 109). All das sind Provokationen gegenüber ihren Parteigenossen. Es war eine Überraschung, dass Sahra Wagenknecht trotz dieser Veröffentlichung und zwei sie attackierender Gegenkandidatinnen mit ihrer erneuten Kandidatur den Spitzenplatz der NRW-Bundestagswahlliste behauptete. Sie erhielt jedoch von den NRW-Delegierten etwa 20 Prozent weniger Stimmen als vor der letzten Bundestagswahl 2017. Interessanterweise mussten aufgrund der Quotierung bei dieser Hybrid-Konferenz die Fragestellenden ausdrücklich ihren Vornamen nennen, um die Frauenquote zu erfüllen. Nach Wagenknechts Ansatz hätte hier nur der Nachname genannt werden müssen. Die erneute Aufstellung war vielleicht ein geschickter Schachzug der Delegierten, um die verschiedenen innerparteilichen Strömungen zu vereinen. Auch nach dem Rückzug vom Fraktionsvorsitz 2019 aus ähnlichen Gründen ist Sahra Wagenknecht populär wie nie. Sie rangiert in der Focus-Liste der beliebtesten Politiker seit Monaten auf Rang drei direkt nach dem bayerischen Ministerpräsidenten und der Bundeskanzlerin.
Cancel culture linksliberaler Sittlichkeitswächter
Wagenknecht hat recht, wenn sie eine Cancel Culture kritisiert, die einen Diskurs und gesellschaftlichen Austausch zu verhindern sucht, indem eine alleinige Wahrheit und Sichtweise gültig erklärt wird (S. 30). Aber den Begriff Identität zu kritisieren, indem man ihn mit Individualismus und einer Gegenhaltung zum gesellschaftlichen Gemeinsinn stellt, ist soziologisch ein Fehler und wird den Anliegen der Menschen nicht gerecht:
„Die Identitätspolitik läuft darauf hinaus, das Augenmerk auf immer kleinere und immer skurrilere Minderheiten zu richten, die ihre Identität jeweils in irgendeiner Marotte finden, durch die sie sich von der Mehrheitsgesellschaft unterscheiden und aus der sie den Anspruch ableiten, ein Opfer zu sein. […] Sexuelle Orientierung, Hautfarbe oder Ethnie […] funktionieren immer.“ (S. 102)
Es fehlt leider teilweise eine Würdigung und Verständnis für die originären Anliegen: es geht im Kern eben nicht um eine verfeinerte Wahrnehmung und sprachliche Hypersensibilisierung, sondern um Grundfragen körperlicher und psychischer Unversehrtheit. Beispielsweise werden noch heute Homosexuelle durch gewaltsame Übergriffe bedroht, zudem war bei vielen von ihnen ihre Sexualität in der Jugend nicht nur tabuisiert, sondern staatlicherseits kriminalisiert. Eine „Sprachpolizei“ erreicht nicht derartige Problemfelder. Wenn Wagenknecht zurecht kritisiert, dass ein linksliberaler Diskurs anstelle einer Beschäftigung mit substantiellen Problemen stattfindet, dann sollte sie nicht denselben Fehler begehen, indem sie nur die sprachlichen Blüten kritisiert und die tatsächlich bestehenden existentiellen Missstände ausklammert.
Diskurshoheiten im digitalen Raum
Sie erwähnt auch einen Aspekt nicht, der zu der von ihr ausführlich geschilderten Problematik „Begriffe und Thesen zu dekonstruieren“ (S. 103) wesentlich beigetragen haben mag: der Einfluss des Internets, insbesondere der digitalen sozialen Medien. Mitteilungen, Äußerungen, Diskussionen erreichen seit einigen Jahren in kürzester Zeit eine enorme Anzahl von Menschen. Es entwickelte sich dadurch notwendigerweise eine Art zu kommunizieren mit neuen Umgangsformen, Regeln und Tabus. In Netiquetten wird geklärt, wie miteinander umgegangen wird, was dabei zu berücksichtigen ist und was gesagt werden darf. Denn es besteht ein Unterschied zwischen dem, was früher am Stammtisch gesagt wurde, wenn „man unter sich ist“ und was im Internet geäußert wird. Besonders wenn diejenigen, über die sich geäußert wird, sich im selben digitalen Raum befinden und sich auch durch derartige Äußerungen verletzt fühlen. Diese Betonung eines korrekten Sprechens beschränkt sich im weiteren Verlauf dann eben nicht nur auf das Internet, sondern bestimmt in seiner Struktur auch immer mehr die gesellschaftliche Diskussion insgesamt. Auf der Benutzeroberfläche des Internets geht es um Empörung und Verletzbarkeit und nicht um Besitzverhältnisse. Diese thematische Verschiebung gilt allmählich auch immer mehr für unser analoges Leben. Das Gleiche ist auch auf dem Gegenpol zu finden. Denn den überhöhten Standards stehen krude Verschwörungstheorien und eine übermäßige Enthemmung des Sagbaren gegenüber. Auch hier hat das Internet die Grenze des Sagbaren verschoben, durch die Anonymität aber in das andere Extrem. Auch dies hat eine starke Auswirkung auf den Umgang der Menschen miteinander.
Regulierung und De-Globalisierung der Finanzmärkte
Die Kritik an den akademischen Zirkeln der Linken verbindet Wagenknecht jedoch auch mit einer Kritik an der Globalisierung, die für sie auch für Intransparenz und eine Entdemokratisierung steht. Eine wirtschaftsliberale, globalisierungsfreundliche Agenda fördere transnationale Konzerne mit umweltschädigenden globalen Wertschöpfungsketten (S. 312). Dies führe zu einem Abbau des Sozialstaats, Privatisierungen und Sozialkürzungen:
„Mit dem vermeintlichen Ideal des Kosmopolitismus und der »offenen Gesellschaft« stellt der Linksliberalismus also eine Erzählung bereit, mittels deren sich Wirtschaftsliberalismus, Sozialabbau und Globalisierung als gerecht und progressiv begründen lassen.“ (S. 132)
Wagenknecht befürwortet eine stärkere Rolle des Staates in der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Ihr zufolge kann nur mehr soziale Sicherheit und Demokratie durch mehr nationalstaatliche Souveränität erreicht werden (S. 243). Auch die EU wünscht sie sich als eine Konföderation souveräner Demokratien (S. 244), in der die Europäische Kommission und Lobbyismus weniger Einfluss nehmen. Die EU müsse vor allem die Meinungsmacht von privaten Internetmonopolisten (S. 253) schwächen, weil es auf globaler Ebene keine machtvollem Regulierungsinstanzen (S. 310) gebe:
„Zu den großen Aufgaben, die einer Lösung harren, gehört eine europäische Digitalstrategie, die uns von den US-Datenkraken ebenso unabhängig macht wie von chinesischen IT-Ausrüstern.“ (S. 245)
Wagenknecht warnt vor Marktmonopolisten, wie den fünf Riesen aus dem Silicon Valley – Apple, Amazon, Google, Facebook und Microsoft, die auch von der Corona-Krise enorm profitieren. Sie spricht sich für Entflechtungsgesetze bei großen Handelsketten (S. 288) aus. Sie erklärt, dass fehlende Sozialangebote in der Bundespolitik auch mit einer fehlenden Vertretung aus dem Kleinbürgertum und der Arbeiterschicht in der Bundestagssitzverteilung zu tun hätten:
„Die untere Hälfte der Bevölkerung ist aus dem Parlament nahezu komplett verschwunden. Nicht-Akademiker, seien es nun Handwerker, Facharbeiter oder diejenigen, die im normalen Leben in schlecht bezahlten Service-Jobs schuften, muss man mit der Lupe suchen. Weit überrepräsentiert mit einem Anteil von gut 70 Prozent sind hingegen Hochschulabsolventen: Juristen, Lehrer, Sozial- und Politikwissenschaftler.“ (S. 110)
Wagenknecht wirbt für Stabilität, Vertrautheit und Zusammenhalt als gesellschaftlicher Basis für eine Politik, die Märkte und Ungleichheit in Grenzen halten möchte. Viele ihrer Positionen in Die Selbstgerechten sind nicht neu oder auch klassisch links. Wagenknecht kritisiert unterfinanzierte Verwaltungen im Staat (S. 260), der sich ihr zufolge auch mehr als Forschungsfinanzier und strategischer Investor (S. 295) hervortun müsste. Sie möchte Gesetze voranbringen, die die Produktersteller zur ressourcenschonenden Verlängerung der Garantiezeiten zwingen (S. 290). Sie stellt das Modell geloster Bürgerversammlungen in den Parlamenten (S. 268) vor, das sie mit der „Bürgertagswahl 2021-Initiative“ ihrer Sammlungsbewegung Aufstehen vielleicht auch tatsächlich bald voranbringen könnte. Auch Stiftungsunternehmen in Leistungseigentum (S. 293) lobt sie oder ein Kranken- und Rentenversicherungsmodell für Solo-Selbstständige und Freiberufler nach Vorbild der Künstlersozialkasse (S. 298). Sie warnt in Krisenzeiten vor einer Inflation, für die erneut die Mittelschicht die Rechnung bezahlen dürfte (S. 308).
Sahra Wagenknecht schreckt vor saloppen Wortneuschöpfungen wie „Schrottdiplomen“ (S. 301) und polemischen Spitzen wie „Propheten der Gender-Theorie“ (S. 196) nicht zurück. Insgesamt ist Die Selbstgerechten trotz alldem ein couragiertes, wichtiges und relevantes Buch, das etwas anderes verdient als öffentliche Empörung, nämlich eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den Thesen.
Ansgar Skoda - 16. April 2021 ID 12858
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Die Selbstgerechten von Sahra Wagenknecht
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