Festes Fleisch
und Rheumasalbe
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„Der Wind peitscht Staub und Dreck gegen die sonnenverbrannten Hügel, wirbelt Erdklumpen auf und zerreißt sie in der Luft. Die nach oben zeigenden Trichter einer Windhose erinnern ihn an zwei aneinandergelegte Hände, deren Handflächen sich kelchförmig nach obenhin öffnen. Wie die Hände eines Bettlers, die sich gen Himmel strecken.“ (Shahriar Mandanipur, Augenstern, S. 189)
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Soldaten erfahren im Krieg meist nicht nur körperlich schwere Verletzungen. Auch psychisch belasten sie Kriegstraumata oft bis zum Lebensende. Der verwöhnte Teheraner Amir Yamini, Hauptfigur in Augenstern, flüchtet vor drohender Verantwortung als einziger Sohn aus reichem Hause. Er meldet sich freiwillig als Leutnant der Islamischen Republik im Ersten Golfkrieg. Amir verliert im Kampf gegen irakische Streitkräfte seinen linken Arm. Auch ein Großteil seiner Erinnerungen geht im Zuge der schweren Verletzung verloren. Seine Mutter und seine Schwester finden ihn in einer psychiatrischen Klinik. Seine Schwester Reyhaneh bemüht sich aufopferungsvoll, zugewandt, selbstlos und voller Güte um Amir. Sie hilft ihn, wichtige Bezugspersonen seiner Truppe wiederzufinden. So schafft er es auch, sich an vergangene zentrale Geschehnisse in seinem Leben zurückzuerinnern.
Der iranische Autor Shahriar Mandanipur reiht sich mit Augenstern ein in die persische Literaturtradition. Der Roman Moon Brow (2018), Sara Khalilis englische Übertragung aus der Sprache Farsi, wurde nun von Regina Schneider ins Deutsche übersetzt. Auf Wunsch des Autors wurde der Roman aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt. Es ist aber anzunehmen, dass eine direkte Übersetzung von Farsi näher am Original geblieben wäre. Literarische Werke aus anderen Kulturkreisen können den eigenen Horizont erweitern. Mandanipur erzählt seinen Roman aus der Sicht zweier Schreiberengel. Über einzelnen Abschnitten wird etwa typographisch hervorgehoben „Aus früheren Aufzeichnungen des Schreiberengels auf seiner linken Schulter:“ Gemäß islamischer Tradition zeichnen Schreiberengel, auf den Schultern des Menschen sitzend, seine guten (rechte Schulter) und schlechten (linke Schulter) Gedanken, Worte und Taten auf. Ihre Aufzeichnungen werden am Tag des Jüngsten Gerichts verwendet, um festzustellen, ob die Person würdig ist, in das Paradies aufgenommen zu werden, so in den Worterklärungen auf Seite 445. Die Schwester Reyhaneh thematisiert zu Romananfang Amirs fehlenden Glauben, indem sie ihm vorhält, dass er sich im Familienkreis mit spitzfindigen Fragen zu den Engeln hervorgetan habe:
„...'stimmt es, dass ein jeder Muslim in seiner ersten Nacht im Grab von den beiden Engeln Nakir und Munkar, die eine brennende Fackel tragen, aufgesucht und zu den Glaubensgrundsätzen des Islam befragt wird?'“ (S. 37)
Gegen Ende unterhalten sich Amirs Schreiberengel und streiten miteinander sogar. Der Lesefluss und die Einfühlung in das Geschehen werden auch dadurch ein bisschen erschwert, das Mandanipur verschiedene zeitliche Ebenen kunstvoll verschränkt. Er arbeitet mit ausgewählten, stilistisch-ungewöhnlichen Bildern auch aus hierzulande eher weniger bekannten Märchen.
Der Leser bewegt sich anfangs im Nebel, genauso wie der bereits zu Beginn um seine Erinnerungen ringende Protagonist Amir.
Mehr und mehr wird Amir vor seiner Kriegsverletzung als Frauenheld gezeichnet: „Der Amir, der jede süße Frucht gepflückt, vernascht und dann weggeworfen hat.“ (S. 198) Er repräsentiert als verwöhntes, reiches Bürschchen die Klasse der wohlhabenderen Kreise im Iran: „Agha Hadschi-Söhnchen“ (S. 365). Amir flüchtete vor der etablierten, traditionellen Rolle des Beschützers und Ernährers, die ihm als einzigen Sohn von den persischen Märchen (S. 344) oder auch von seinem Vater und seiner Dynastie nahegelegt werden (S. 313).
Amir kann seiner Zerstörungswut (S. 290) und seinen testosterongesteuerten Bedürfnissen nach Macht und Potenz im Krieg vollends nachgehen:
„Sonst habe ich stets Mörser und Sprenggranaten eingesetzt, die weit weg hinter Hügeln oder Bergen einschlugen, wo ich die unmittelbaren Folgen nie mitbekam. Nun sehe ich zum ersten Mal, dass ich getötet habe. Er fühlt sich freudig erregt, empfindet eine gewisse Leichtigkeit.“ (S. 86)
Bombardierte Orte und Kriegsschauplätze mit geköpften Palmen, Ruinen und Trümmerhaufen prägen bald seine Umgebung. Er bewegt sich auf klapprigen Lastern mit Kalaschnikows durch verminte Gebiete voller Mörsergranaten und Granattrichter. Bald durchbrechen gar MiGs die Schallmauer und verbreiten weiße Rauchwolken von Giftgasnebel.
Wie viele andere Soldaten wird Amir durch das Ideal des Soldaten im unfassbar grausamen Krieg überfordert. Die Ratlosigkeit hier mitmachen zu müssen, geht mit einer Sehnsucht nach einer alles heilenden Liebe einher. Die Soldaten sind hin und hergerissen zwischen dem Verlangen nach Romantik und danach, sich geschlechtlich stark zu fühlen.
Mandanipur zeichnet einen jungen Mann, der schon in der Natur erregt wird durch Andeutungen weiblicher Geschlechtsmerkmale: „tittenförmigen Hügel“ (S. 194) Geflissentlich schmückt er genossene Höhepunkte in seiner Erinnerung durch frischaufblühende Blumenbilder auf. Auch als Soldat genießt er dann einen Ständer beim „saftigen Glitschen ihrer Blume“ (S. 330), „einen glitschigen Teppich zerquetschter Kirschen“ (S. 338), „seidige Feuchte von Blut und Nektar“ (S. 361).
Die Verbindung von Sex und Kriegsgeschehen treibt Mandanipur grotesk, geradezu wörtlich auf die Spitze, wenn er beschreibt, wie ein Soldat während des Heimaturlaubs beim Beischlaf eine Salbe gegen Muskelzerrungen auf seine Eichel aufträgt, um so den Höhepunkt hinauszuzögern. Er muss schmerzhaft erkennen, dass dies schnell zu Brennen und Erschlaffen des Glieds führt. Daraufhin rächt er sich bei einem Soldaten, der ihm zu dieser Methode, getarnt als islamischen Ritus, geraten hatte (S. 120 ff.).
In Rückblenden des Romans deutet sich an, dass sich Anklänge der westlich modernen Kultur nach Absetzung von Schah Mohammad Reza Pahlavi und der Beendigung der Monarchie im Iran veränderten. Ein Streben nach Moderne wird 1979 mit der islamischen Revolution und dem brutalen Mullah-Regime innerhalb kurzer Zeit durch Religiosität, eine traditionell-konservative Lebensweise mit islamischen Kopftüchern wie Hidschabs ersetzt.
Amir begibt sich gegen Ende in die Vergangenheit an den Platz, an dem er seinen Arm verlor. Er begegnet kriegszerstörten, menschenleeren Städten, ausgebrannten Panzern, Löchern und Kratern von Granateinschlägen und versengter, ölgetränkter Erde. Er durchlebt Zitterkrämpfe und begegnet alten Vertrauten. Sein verlorener Arm wird im gewissen Sinne zum Sinnbild der verlorenen Heimat des Iran. Das oftmals recht blumig geschriebene Buch lässt ein machohaftes Männlichkeitsbild unhinterfragt. Shahriar Mandanipur, der selbst Soldat im iranisch-irakischen Krieg war, bietet in Augenstern schlussendlich als politisch-zeitgenössischem Dokument vor allem einige anschauliche und ergreifende Kriegsbilder:
„Die von Durchfall geplagten Tage plätschern dahin, in Siff und Dreck, in elegischer Tristesse. Noch dazu der einsame Kampf gegen das Erbrechen, wenn dir die nachlaufenden Druckwellen im irakischen Kugelhagel den Magen umdrehen. Die Zeit schleicht dahin, die Tage kriechen der Nacht entgegen. Auch die Stunden der Nacht rinnen endlos träge dahin. Die Ratten, die oben auf der Abdachung umherwuseln, werfen feuchte Dreckspritzer auf, die durch offene Fugen in den Graben rieseln und für Gefluche sorgen. Die Stechfliegen machen pflichtvergessen, sie totzuklatschen wird zum Kriegsziel.“ (S. 118)
Ansgar Skoda - 16. Mai 2020 ID 00000012242
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Augenstern von Shahriar Mandanipur
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