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Roman

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„Erstaunlich, dass sich die Menschen immer weniger auf irgendwelche gemeinsamen Werte einigen können. Viele PolitikerInnen versuchten nicht einmal ihre Gier zu verbergen. Die Unternehmen hielten sich nicht mehr daran, so zu tun, als würde sie außer Gewinn irgendwas interessieren. Die Männer taten nicht mehr so, als würden sie Frauen respektieren, die Gesellschaften taten nicht mehr so, als wären sie an Schwächeren interessiert. Aber an das
Finanzsystem glaubten sie…“


(Sibylle Berg, RCE, S. 533f.)


*

Mit RCE schrieb die deutsch-schweizerische Schriftstellerin Sibylle Berg eine Fortsetzung zu ihrem gefeierten Bestseller GRM. Brainfuck, der 2019 den Schweizer Buchpreis erhielt und auch auf lokalen Bühnen [beispielsweise beim vorjährigen THEATER DER WELT in Düsseldorf] gezeigt wurde.

Wie der Vorgängerroman weit über 600 Seiten dick, beginnt RCE dystopisch da, wo GRM aufhörte. Der oder die Einzelne ist machtlos. Die gesamtgesellschaftliche Krise wurde zum Normalzustand. Müllberge, Naturkatastrophen, Inflation, Seuchen, Kriege und Diktatoren zeugen von einer ausweglosen Lage. Eine neoliberale Absurdität irgendwann in naher Zukunft wird ausgestellt.

Die mehr oder weniger desillusionierten Heldinnen und Helden des Vorgängerromans tauchen wieder auf: Maggy, Karen, Rachel, Don, Pjotr und Ben. Sie sind jedoch kaum noch zentrale Figuren, da die Handlung eher durch regelmäßige Sprünge und Erzählperspektiven stets neuer Figuren bestimmt wird. Um ihre Mitbürger über die Missstände aufzurütteln, entwickeln die Freunde eine Chat-App, die sogenannte RCE-App. Sie läuft nicht über zentrale Server. Gleichzeitig wird in dem Roman „Remote Code Execution“, für das das Akronym RCE steht, zum geflügelten Buzzword:


„Remote Code Execution – aus der Ferne auf Computer und Endgeräte zugreifen, um dort Änderungen durchzuführen. Änderungen, ein großes Wort.“ (S. 568)


Technische Entwicklungen spielen, genau wie in GRM eine zentrale Rolle, und Berg nimmt Bezug auf aktuelle Dienste. So wird der Streaming-Dienst Spotify negativ gedeutet, etwa als Beschleuniger des Verfalls sozialer Werte und als Abschöpfung jedweder künstlerischer Kreativität:


„Der Gründer des größten Vernichters von MusikerInnen, Spotify, hatte die Basis aller monopolistischen Plattformen begriffen: Nimm dir das geistige Eigentum von fleißigen IdiotInnen, KünstlerInnen, DenkerInnen, HobbybastlerInnen – wandle es in Code um, schmeiß es in die Welt und betone, dass du damit irgendeinen Scheiß revolutionierst.“ (S. 290)


Geistiges Eigentum wird in RCE stets entwertet oder von obskuren Vereinigungen nach neuen Gesichtspunkten ausgewertet und vereinnahmt:


„Im Cassandra-Team wurden seit einiger Zeit weltweit Romane nach Hinweisen auf Anzeichen bevorstehenden Unheils geschaut und die Ergebnisse an die Exekutive weitergeleitet.“ (S. 118)


In Bergs Dystopie bewegt sich die Gesellschaft hin zu weniger freiheitlichem Denken und zu gesamtgesellschaftlicher Betäubung. So ist Kemal, einer der Sympathieträger aus GRM, wie die übrigen Figuren hoffnungslos gestimmt:


„Was war das für eine beschissene Zeit. In der Institutionen alte Bücher auf mögliche Trigger oder kapitalismuskritische Passagen prüften, die sie dann durch kapitalismusbejahende Formulierungen ersetzten. In der in den verbliebenen Theatern außer Musicals mit Tieren und unter Einsatz von Tierpsychologen und -rechtlern nichts mehr stattfand, weil es kaum etwas gab, keinen Satz, kein Kostüm, das nicht irgendjemanden triggerte. Es gab Serien, und Games. Und Fashionblogs, das war Kultur genug, warum auch nicht.“ (S. 325)


Stakkatoartig schreibt Berg von einer Angstlast, von Schlachtkörpern oder Verwertung. Menschen werden bewusst verdinglicht, wenn es heißt: „und jedes, das anders dachte“ (S. 244). Es gibt aus der Innenperspektive verschiedener Figuren wütende Anklagen, wie: „Alle Macht geht nicht vom Volke aus. Hatten sie entschieden.“ (Ebd.). Es wird mit Ländern wie Frankreich in punkto Umweltschutz verniedlichend abgerechnet:


„Unter der neuen Regierung wurde in Kohle investiert, in Erdöl und in umweltfreundliche moderne kleine Atomkraftwerke, Baby-Atomkraftwerke. Adopt an Atomkraftwerk.“ (S. 321)


Sibylle Berg gibt den Lesern nur noch wenig Zeit, sich in die Figuren und Schicksale einzufühlen. Dafür springt sie zu oft zwischen den oft neuen Figuren. Fortwährende Wechsel zwischen Ländern, Perspektiven oder Zeilen erschweren den Lesefluss. Außerdem arbeitet Berg auch bewusst mit abgebrochenen Sätzen oder syntaktischen Fehlstellungen. So fesselt das Sammelsurium böser, erhellender, oft auch kluger Pointen nur wenig. Stellenweise ist die mittlerweile 60jährige Autorin auch ein bisschen eitel, wenn es etwa selbstreferentiell heißt:


„Na, so ein Zufall. Als hätte es sich jemand ausgedacht.“ (S. 462)


Einen großen Pluspunkt gibt es für das gelungene, gut lesbare Glossar (S. 683-695), in dem textimmanent vorkommende Begriffe wie Geoblocking, also die regionale Sperrung von Internetinhalten, oder die Spionagesoftware FinSpy kurz erklärt werden. Eine Fortsetzung von RCE wird übrigens auf den letzten Seiten angekündigt. Hoffentlich wird es dann abwechslungsreicher und initiativfreudiger und weniger stumpfsinnig und düster für das Gros der Erdenbürger:


„Lasst mich einfach meine Zeit in Ruhe herumbringen, doch das war nicht vorgesehen, eine Ruhe, da musste immer eine Angst sein, eine Bedrohung, sonst würde es nicht funktionieren, die Massen in einer Folgsamkeit zu halten.“ (S. 342)


Ansgar Skoda - 3. Dezember 2022
ID 13947
KiWi-Link zu RCE von Sibylle Berg


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