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Roman

Abseits der Norm





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„John schien es egal zu sein, ob die Männer heute oder gestern da waren und ob es Journalisten oder Spitzel waren. Die Tatsache, dass sie da waren, fiel wie ein Schatten auf ihn, unter dem er nicht herauskam. Die Welt ragte über ihm auf, reckte den Hals. Nun hatte sie es herausgefunden.“ (Tom Crewe, Das Neue Leben, S. 373)

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Der historische Roman Das Neue Leben (engl. Originalausgabe The New Life, 2023) handelt von Macht und Begierde, Solidaritätskämpfen und Verschleierungstaktiken. In seinem Prosadebüt zeichnet der Brite Tom Crewe anschaulich und genau beobachtet aufgestaute Wünsche und Sehnsüchte männlicher Obsessionen. Seine Protagonisten versuchen auf unterschiedliche Weise mit (homo-)sexuellen Neigungen, Abweisungen, Verletzungen und Schmerz umzugehen. Der Roman ist vielschichtig angelegt und reich an unterschiedlichen Tonlagen.


„Sie hörten auf zu sprechen, lauschten der Stille. Zwei Männer in einem kleinen Zimmer, am Ende eines dunklen Korridors, in einem großen Haus, in einer herzlosen Stadt, auf einer Insel, von kaltem Meer umschäumt." (S. 289)


Das Werk orientiert sich an historischen Vorbildern. In England war es aufgrund der gesellschaftlichen Tabus der viktorianischen Zeit nicht mögliche, offen über homoerotische Neigungen zu sprechen. Der Brite John Addington Symonds (1840-1893) war ein früher Verfechter der homosexuellen Liebe und befürwortete die gleichberechtigte gleichgeschlechtliche Beziehung. Der Lehrer, Literaturkritiker und Kunsthistoriker war verheiratet und hatte vier Töchter. Zusammen mit dem britischen Sexualforscher Havelock Ellis (1859-1939), der mit der Frauenrechtlerin Edith Lees verheiratet war, arbeitete er an dem Werk The Sexual Inversion, die erste objektive Studie über Homosexualität, die sie weder als Krankheit, Perversion oder Verbrechen verstanden haben wollten. John Symonds und Havelock Ellis, im Roman Henry genannt, korrespondierten über Briefe, die teils wiedergegeben werden, zu zeitgenössischen Theorien über Homosexualität. In Crewes Werk betrachtet der jüngere Autor Henry Ellis die oftmals persönlich betroffenen Ausführungen Symonds’ mit wissenschaftlicher Neugier. Er möchte gesellschaftliche Veränderungen, das titelgebende „Neue Leben“ voranbringen:


„Der Brief endete mit einem Verweis auf das Gesetz, Addington benutzte den Ausdruck »Vereinigung per anum«. Die Schnörkellosigkeit von alldem, die Schnörkellosigkeit der Verknüpfung dieses Aktes – faszinierend in seiner Derbheit, als Ausdruck eines menschlichen Bedürfnisses – mit der kalkulierten Gemeinheit der Strafe entsetzte ihn.“ (S. 152)


Ihre Studie, die intime Selbstbeschreibungen homosexueller Männer der damaligen Zeit beinhaltete, sorgte für einen handfesten Skandal. Sie wurde im Zusammenhang mit den Prozessen gegen den irischen Schriftsteller Oscar Wilde diskutiert. Wilde wurde 1895 wegen der Unzucht mit jungen Männern verhaftet, angeklagt und zu zwei Jahren Zuchthaus mit harter Zwangsarbeit verurteilt. In Das Neue Leben lebt der Protagonist John heimlich eine schwule Beziehung zu einem jüngeren Mann, der bei ihm angestellt ist. Er hat Angst, wie Wilde hierfür bestraft zu werden:


„Er hatte gelesen, wie Wilde beim Weg vor Gericht niedergemacht wurde. Wie man ihm nach seiner Verhaftung das Gefängnis ansah. Wie er dahinwelkte, abgerissen wirkte. Dünner wurde, älter. Wie die Wellen aus dem Haar verschwanden. Wie das Gesicht auf der Anklagebank weiß wurde, dann von Rot geflutet.“ (S. 270)


Crewes Roman erzeugt Spannung durch unterschiedliche Erzählperspektiven. So betrachtet Henry, der selbst nicht homosexuell ist, das Geschehen rational und hält seine eigenen Gefühle stets eher bedeckt:


„»Die öffentliche Meinung hat sehr hart reagiert«, sagte Henry. Wieder sagte er nicht genau, was er fühlte, nämlich dass sich das Land als zutiefst reaktionär gezeigt hatte. Dass es ihn zutiefst erschreckt hatte. Dass das Neue Leben unfassbar fern schien.“ (S. 279)


Doch auch Henry ist empfindsam und alsbald beunruhigt. Er nimmt mit Argwohn, gepaart mit melancholischen Erinnerungen, seine Gattin Edith wahr, die eine eigene Wohnung unabhängig von ihm besitzt. Edith lebt hier bald mit einer Frau zusammen:


„Er wurde das Gefühl nicht los, dass der Raum, den sie bewohnte, um sie her größer geworden war und sie irgendwie kleiner darin. Er konnte das nur mit seinen Erinnerungen vergleichen, als sein Vater fort auf hoher See war: die Wahrnehmung, schon als kleiner Junge, dass seine Mutter die Abstände von Wand zu Wand, von Tür zu Tür ohne die sich einschaltende Anwesenheit ihres Mannes stärker empfand.“ (S. 180)


Intensive poetische Wahrnehmungen bereichern Crewes Roman, in denen es stets auch um Unabhängigkeit und das Alleingelassen-Sein geht. Zugewandtheit schlägt mitunter um in Abhängigkeit und Übergriffigkeit. Henry wird bald damit konfrontiert, dass die Gesellschaft noch nicht bereit für sogenannte Verstandesargumente ist (S. 298).

Neben Oscar Wilde spielen auch Werke des US-amerikanischen Dichters Walt Whitman (1819-1892) eine Rolle, und der britische Autor Edward Carpenter (1844-1929) ist als Protagonist angelegt. Literaturhistorisch besonders bemerkenswert ist es schließlich, wenn sich der spätere Literaturnobelpreisträger George Bernard Shaw (1856-1950) gegen Ende in einem Leserbrief im Contemporary über die Verunglimpfung der Studie von Ellis und Symonds als herabwürdigende Heuchelei äußert und die Strafverfolgung homosexueller Männer ein „Meisterwerk polizeilicher Dummheit und richterlicher Ignoranz“ (S. 375) nennt.

Über den realhistorischen John Symonds ist bekannt, dass er eine jahrelange Beziehung mit einem seiner Schüler hatte. Crewe provoziert in seinem Roman mit entwaffnender Komik, wenn er John passagenlang den Ehegatten seiner Tochter, Stanley, begehren lässt:


„John war es peinlich, wenn er sich daran erinnerte, wie fasziniert er von ihm gewesen war. Er wusste, ein guter Vater hätte zu der Romanze seiner Tochter Abstand gehalten, statt sich hineinzubegeben. Sie gar zu beneiden. Ja, zu beneiden. Er hatte sich an ihre Stelle gesetzt, sich vorgestellt, dass Stanleys Körper mit geschmeidigem Gewicht auf ihm lag und diese langen Beine seine auseinanderschoben. Er hatte Maid genau beobachtet, als könnte er dadurch an ein Wissen gelangen, das ihm nicht zustand. Wenn sie zu Besuch kamen, trödelte er vor ihrer Tür herum, in der Hoffnung, irgendwelche Geräusche aufzuschnappen. Er hatte sich selbst angeekelt.“ (S. 305)


Verstohlene Räume für Begehren lodern auf. Gleichzeitig stehen tiefe Verletzungen im Zentrum. Das Neue Leben ist ein bewegendes Zeugnis über Wissenschaft und Begehren und ihren Platz in der Welt. Tom Crewe hält sich in seinem Roman nicht immer an die historischen Fakten; so erschien The Sexual Inversion 1896 zuerst in der deutschen Übersetzung, also nach Symonds Tod. In Das Neue Leben ist es Symonds, der an der Publikation schlussendlich festzuhalten versucht und sich gegen gesellschaftliche Widerstände störrisch aufbäumt. Der heute 35-jährige Tom Crewe erhielt für sein von Frank Heibert Ende 2023 ins Deutsche übersetzte Debüt renommierte Literaturpreise. Es sind zukunftsoffene und verlockend-lichte Bilder, die nach der Lektüre in Erinnerung bleiben:


„Jetzt; jetzt herrschte Nebel, gelbbraun, so dicht und strukturiert wie Stoff. Ein Vorhang, der auf der falschen Seite der Fensterscheibe hing. Die Welt draußen sah aus, als müsse sie sehr trüb, sehr stumpf sein; eine große wartende Leere.“ (S. 229)


Ansgar Skoda - 27. April 2024
ID 14718
Insel-Link zu Das Neue Leben von Tom Crewe


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