Christine Pitzke - Im Hotel der kleinen Bilder
RomanVerlag Jung und Jung, 2013 ISBN 978-3-99027-035-6
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Wie betörend doch diese Aussicht ist. Wie angenehm der Salzgeschmack vom Meer. Und das Licht erst, eine kaleidoskopische Offenbarung! Eine mediterrane Szenerie, wir befinden uns in einem kleinen Hotel im südfranzösischen La Ciotat, ein Hotel wie das Chelsea Hotel, bevölkert von irrealen Figuren und ihren anrührenden Geschichten, und zuletzt werden wir sogar Augenzeugen einer veritablen Kunst des Sehens oder Sehen-Lernens. Und geht es zuletzt nicht immer darum, bei allem, was wir tun und erfahren, das Vertraute auf neue Weise sehen zu lernen? Es gibt eine ganze Menge, was man in diesem Buch neu entdecken kann. Eine Vielzahl sinnlicher Details, minutiös verwebt mit den Geschichten der Hotelbesucher und einer feinen Sprache, wie man sie bei Colette an Sinnlichkeit kaum besser findet.
Beginnen wir mit dem Geschäftsführer Reymont, eine ausgezeichnete Figur, eine Schablone klischierter Wünsche von melancholischen Feingeistern, oder die ganz und gar lebendige, korrekte und praktische Silvie. Madame Hoegner aus Deutschland verweilt seit Jahren in diesem Hotel der "kleinen Bilder", immer auf der Suche nach neuen Eindrücken, neuen Gesichtsfeldern, überraschenden Visionen wie all die anderen auch. Pitzke liebt diese Momente, kreiert Atmosphären, die auf den zweiten Blick zum Nachdenken bringen, die keineswegs eindimensional zu buchstabieren sind, die es in sich haben, harmlos auf den ersten Blick, verstörend oft auf den zweiten. Ein Buch für alle und keinen, für alle Liebhaber des Südens, der romanischen Poesie, der französischen Lebensart, die natürlich sofort in ihre Einzelteile zerlegt wird und, genüsslich mit Gewürzen der Ironie und zärtlicher Verfremdung aufbereitet, dem Leser neu vor Augen geführt wird. Ja, da gibt es etwas zu lernen in diesem Buch, und doch wollen wir nicht unterschlagen, was für ein Lesevergnügen dieses schmale Bändchen beschert. Wer der dichten, oft heiteren, selten nur beschaulichen, dennoch idyllischen Atmosphäre dieses Romans inne wird, dem könnten ein paar glückliche Stunden in seiner Fantasie gewiss sein:
"Der Regen hatte es eilig und die Menschen auch. Nur Reymont hatte Zeit, er saß an seinem Fenster, er ging eine Runde durch das Haus, draußen war in jedem Fenster ein anderes Wetter und insgesamt dadurch die Lage stabil. Einer der Reisenden hatte zu ihm gesagt, das Dasein sei dann am glücklichsten, wenn es am wenigsten fühlbar sei, denn man spüre den Schmerz, aber nicht die Schmerzlosigkeit, man spüre die Furcht, aber nicht die Furchtlosigkeit, aber da wollte er widersprechen. Denn er fühlte seine Furchtlosigkeit, und er fühlte sie sogar sehr, er stand jetzt draußen in der Nacht, es war die Stunde, in der sich die Gerüche von den Bäumen und von den Gräsern lösten und einzeln erkennbar waren. Er wusste, das war unwissenschaftlich gesagt und gedacht, denn sie lösten sich ja nicht, und nur er selbst war offener als sonst. Und einen Moment lang sah er die Dinge nicht aus der Ferne seiner Augen und mit dem Brechungswinkel, sondern er sah sie von innen und wie sie sich selbst sehen, vielleicht oder möglicherweise. Er erschrak und freute sich über den Moment und ging rasch wieder hinein zu den anderen und war am großen Tisch allein und sah in dieser Art von Alleinsein jetzt eine fast vollendete Lebensform. Jemand schaltete den Fernseher ein, es wurden ihnen Reportagen in die Ohren geschrieben, es gab die harten Bildeinschläge." (aus Im Hotel der kleinen Bilder)
Vielleicht könnte man sagen, dass es sich hier um eine perfekte Prosaseite handelt. Perfekt jedenfalls für unsere Zeit. Mit allen Brüchen und Neigungen, Verzerrungen und Lichtungen, mit allen Verantwortlichkeiten und Disharmonien, mit der ganzen unaufgeregten Subtilität der Erbschaft des vergangenen Säkulums. Literatur ist, wenn sie gelingt, immer mehr als nur Literatur. Sie ist in ihrer besten Form - auch wenn dies die Literaturwissenschaftler ungerne hören - ein Handbuch der Lebenskunst, eine Antwort auf die Frage, wie man als Menschen sein Leben meistert. Vielleicht klingt das sehr antiquiert, möglich, dass es aus der Mode kam. Sicher ist, dass die Ästhetik der Poesie, der Literatur nie einen anderen Sinn hatte als einen ethischen. Das Artifizielle ist jedenfalls auch in diesem kleinen Roman kein Selbstzweck, sondern die Bedingung seiner Wahrhaftigkeit.
Unnötig daher zu erwähnen, wie trefflich sich dieser schmale Roman für einige versonnene Tage am Meer eignet. Unnötig zu sagen, welches feine Juwel aus der Feder von Christine Pitzke hier vorliegt, einer Autorin, der man schon dann Gewalt antut, wenn man sie so nennt statt von ihr als einer Dichterin zu sprechen. In diesem Roman, der so wenig auf den Plot gibt und die einzelnen Stimmen der Hotelgäste, jener Menschen im Hotel der kleinen Bilder, auf so leise und empfindsame Weise zusammenführt, steht kein Satz zu viel oder zu wenig. Das ist eine Kunst und es ist eine Leistung, dass der Verlag Jung und Jung den Mut hatte, diese leise Poesie zu publizieren.
Jo Balle - 25. Juli 2013 ID 6993
Christine Pitzke - Im Hotel der kleinen Bilder
160 S., geb.
€ 17,90
ISBN 978-3-99027-035-6
ebook:
€ 12,99
ISBN 978-3-99027-103-2
Verlag Jung und Jung
Siehe auch:
http://jungundjung.at
Post an Dr. Johannes Balle
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